Irgendwo in Sachsen-Anhalt. Neben der Stelle des Sozialarbeiters wird noch eine Stelle geschaffen für jemand, der sich um die kulturellen Belange kümmern soll: Eine Gruppe junger Gitarrenspieler will sich gründen. Es gibt Interessenten für ein Jugendtheater.
Andere wollen miteinander rappen. Mit anderen Worten: Es gibt eine Reihe Engagierter. Einer unter den Interessenten für diese Stelle scheint alle Kriterien wunderbar zu erfüllen. Die Wahl fällt auf ihn. Er tritt die Stelle an. Die Jugendlichen merken: Der kann was, obwohl er bereits die Dreißig weit hinter sich gelassen hat. Manchmal scheint er ein bisschen spießig. Aber wer ist schon vollkommen. Das Theater macht seine ersten Aufführungen. Unter den Zuschauern ist jemand, der den Regisseur und Theaterleiter kennt. Er flüstert es einem anderen Zuschauer zu. In der kommenden Woche wissen die Eltern der Jugendlichen, die den Club besuchen, was der Mitarbeiter des Jugendklubs für eine Lebensgeschichte hat: Er ist haftentlassen. Ein Lebenslänglicher. Nach 17 Jahren ist er nun wieder frei. Können Sie sich vorstellen, was jetzt passieren wird?
Irgendwo in Sachsen-Anhalt. In einem Dorf steht ein leeres, vom neuen Besitzer hergerichtetes Haus. Aus dem Ort gibt es keine Mietinteressenten. Irgendwann beziehen zwei Männer das Haus, die niemand aus dem Ort kennt. Aber bald spricht es sich herum, dass beide viele Jahre wegen sexuellen Missbrauchs gesessen haben. Sie haben ihre Strafe verbüßt. Sie haben noch in Erinnerung, was hier passierte?
Wir haben in Deutschland zwei Geschichten mit der Todesstrafe. In der DDR wurde sie erst 1987 abgeschafft. In der Bundesrepublik Deutschland entledigten sich die Väter des Grundgesetzes, übrigens nicht in Übereinstimmung mit der Mehrheit des Volkes, der Todesstrafe laut Artikel 102 des Grundgesetzes. Die lebenslange Freiheitsstrafe ist die höchste Strafe, die das Strafrecht kennt. Wobei es auch hier in Europa unterschiedliche Auslegungen des Begriffs gibt. In Deutschland versteht man unter der lebenslangen Freiheitsstrafe einen Freiheitsentzug auf unbestimmte Zeit, mindestens aber 15 Jahre. Danach kann der Strafrest zur Bewährung ausgesetzt werden. Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1977 gebieten das Rechtsstaatsprinzip und die Menschenwürde, dass einem Verurteilten die Möglichkeit eingeräumt werden muss, irgendwann die Freiheit wiederzuerlangen. Der Freilassung geht ein Gutachten voraus, das den Strafgefangenen beurteilt und als Grundlage der Entscheidung bei Gericht dient. Soweit so gut.
Wir haben gesellschaftlich in Deutschland nur eine Geschichte, mithin in beiden ehemaligen Deutschlands, wie mit dem Umstand umgegangen wurde, dass es kein Todesurteil mehr gibt: Es wurde in der Gesellschaft nie wirklich eine Diskussion geführt, wie wir als Gesellschaft mit Menschen umgehen, die nach der Verbüßung ihrer Strafe wieder in unsere Mitte kommen. Unbestimmte Ängste werden da ausgelöst. Eine ganz üble Rolle in der gesellschaftlichen Diskussion spielten Politiker-Äußerungen wie die des Altkanzlers Schröder: „Wegsperren – und zwar für immer“ eine unheilvolle Rolle, zumal sie in einer zwar angeheizten Situation gesagt wurden, der Altkanzler aber wohl wusste, dass dieses Diktum zum einen Folgen haben würde, zum anderen den tatsächlichen Fakten extrem widerspricht. Im Gegenteil, trotz rückläufiger Zahlen heizte das Wort des Bundeskanzlers die Diskussion an. In der Folge mag auch mancher, der sich das ansonsten überlegt hätte, mit diesen grunddämlichen Aufklebern „Todesstrafe für Kindesmissbrauch“ durch die Gegend gefahren sein.
Wenn aber Strafe kein Selbstzweck ist, sondern in die Gesellschaft zurückführen soll, muss die Gesellschaft in den Prozess einbezogen werden. Der Prozess kann gut und gern in der Schule beginnen. Als ich in diesem Jahr das Buch „Ihr da!“ – geschrieben von Strafgefangenen in Burg und Raßnitz, aber auch von Schülern in Magdeburg und Tangermünde – in etlichen von Sachsen-Anhalts Schulen mit der dankenswerten Unterstützung der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalts in 9. bis 11. Klassen vorstellen durfte, kam es zu lebhaften, aber immer ausgesprochen konstruktiven Diskussionen.
Wir brauchen das Gespräch!
Ludwig Schumann