Das Meer rauscht, der Wind kitzelt, das Leben singt. Einmal an die Ostsee, nur einmal! Das Meer sehen, das Meer hören, das Meer riechen, das Meer berühren, das Meer kosten, einfach alle Sinne ausreizen. Das will Martin Kaupke. Wenn er die Augen schließt, dann hat der Teenager diesen Traum. Von Wellen, Strand und Sonne.
Einfach ins Auto setzen und hinfahren, geht aber nicht, denn Martin hat Muskeldystrophie. Vererbter Muskelschwund, der bereits seit dem Kleinkindalter rasch voranschreitet, so dass er längst auf den Rollstuhl und auf die komplette Versorgung und Pflege, rund um die Uhr angewiesen ist.. Sein Zuhause ist das Kinderhospiz der Pfeifferschen Stiftungen in Magdeburg. Es gibt Lebensläufe, die bewegen sich im Teufelskreis.
Martin ist 19. „Wir haben den Notfall besprochen“, sagt Mutter Silvia Kaupke. „Martin will dann keine Trachealkanüle, keine künstliche Atemöffnung. Alles andere überlässt er seiner Mama.“ Die Mutter schluckt. Über den Tod will er nicht weiter reden. „Martin weiß, dass er jederzeit sterben kann“, sagt sie. Der Sohn fühlt sich dem Himmel nah. Aber dem Meer noch viel mehr. Da will er hin. Das hat er im Kinderhospiz den Schwestern immer wieder gesagt.
Ja, warum eigentlich nicht? Und wen würde er denn gern mitnehmen? Die Mutter. Gesagt, getan. „Wir haben uns in unserer Runde besprochen und dann Kontakt mit der Aktion Kindertraum aufgenommen. Das ist ein Verein, der bundesweit schwerstkranke und schwerstbehinderte Kinder und ihre Familien unterstützt, ihnen besondere Wünsche erfüllt“, sagt Franziska Höppner, Leiterin des Kinderhospizes. Als der Verein in Hannover von Martins Schicksal und seinem Traum erfuhr, hat er gleich zugesagt, zu helfen – organisatorisch wie finanziell. So übernimmt Aktion Kindertraum für Martin und Silvia Kaupkes Urlaub die Finanzierung der Vollverpflegung und Unterkunft wie auch die Kosten von Hin- und Rückfahrt und fürs Pflegebett.
Das Reiseziel ist dann schnell ausgesucht: die Eltern-Kind-Vorsorgeklinik im Ostseeheilbad Zingst. Eine Reha-Kur vom 13. bis 20. Juni. Klingt toll. Aber: Einige Hürden muss der Sozialdienst vom Magdeburger Kinderhospiz trotzdem noch meistern, die Fahrt nach Zingst, Pflegebett organisieren…
Und: Wer soll den Pflegedienst bezahlen, damit sich auch Mutter Kaupke mal entspannen kann? Die 57-jährige Magdeburgerin kann das nicht bezahlen, sie lebt von Hartz IV. Aber muss das wirklich sein, eine Pflegekraft mit in den Urlaub? Ja, weil der gelähmte Martin allein jede Nacht bis zu 15,16 Mal im Bett umgedreht werden muss, damit er sich nicht wund liegt… Er muss raus aus dem Rollstuhl und wieder rein nach dem Waschen, nach jedem Gang auf die Toilette… Pflege rund um die Uhr eben.
Das Kinderhospiz bietet ein Zuhause auf Zeit. In dem keine Erwartungen zu erfüllen sind und keine Fassaden aufrechtzuerhalten. In dem Eltern frei sein können, nicht nur um ihr Kind und seine Krankheit zu kreisen. In dem sie nicht Ausnahme sind, sondern so wie alle anderen: erschöpft von der Pflege, getrieben von der Sorge um die Kinder, sowohl die unheilbar kranken als auch die gesunden, die so oft im Schatten stehen. Die Angebote zielen auf eine längere Begleitung, mit der „Entlastungspflege“. Darauf gibt es einen Rechtsanspruch von maximal 28 Tagen im Jahr. Der aber wird für Martin schon voll ausgeschöpft.
Fünf Prozent der Kosten für das betroffene Kind werden durch Spenden finanziert, der große „Rest“ von 95 Prozent durch die Kranken- und Pflegekassen. Martin ist wie die ganze Familie Kaupke bei der AOK versichert. Die Zusammenarbeit funktioniere gut, sagt Franziska Höppner. Wege sind unbürokratisch, direkt und schnell. Gerade das ist wichtig, denn Zeit ist für die betroffenen Familien das höchste Gut.
Frau Kaupkes Kinder leiden unter unheilbaren Erkrankungen und ihre gemeinsame Zeit ist unabänderlich begrenzt. Und die Mutter dankbar, dass ihr Sohnemann dabei so gut versorgt wird. „Die Kosten für Behandlungen, Pflege und Hilfsmittel wie den Rollstuhl, alles zahlt unsere Kasse.“ Die Leiterin des Kinderhospizes schätzt „die unkomplizierte, direkte Art der AOK, das Handeln im Sinne der Patienten. Einzelfallentscheidungen werden schnell getroffen.“ So auch im Fall von Martin. Wilma Struck, Landesrepräsentantin der AOK Sachsen-Anhalt: „Der Wunsch von Martin hat uns alle sehr bewegt und wir haben die Kosten für den Pflegedienst als Einzelfallentscheidung übernommen.“
Martin konnte es dann auch gar nicht erst fassen. Endlich ans Meer, an die Ostsee! Da sind sie im Juni dann hin: Martin, die Mutter und Schwester Sylvia vom Pflegedienst Wend aus Klostermansfeld. Raus auf den Holzsteg der Reha-Klinik in Zingst, die Seeluft schnuppern, das Meeresrauschen genießen… Martin strahlt. Und wird sogar ein bisschen braun im Gesicht und an den Armen. „Toll, toll, toll“, schwärmt Martin, als er wieder in Magdeburg ist. Sein größter Wunsch ist wahr geworden. Jetzt träumt’s sich doch noch viel schöner ans Meer. Da lacht die Sonne, da lacht das Herz. „Danke, dass Sie mir und meinem Jungen unseren ersten Urlaub ermöglicht haben“, sagt Silvia Kaupke.
Ja, so ist das, wenn AOK und Pfeiffersche Stiftungen an einem Strang ziehen.