Wie wahr ist, was wir über die Welt erfahren? Welches sind glaubwürdige Quellen und wie verändert das Internet die Sicht auf aktuelle Ereignisse. Ein Deutungsversuch.
Von Thomas Wischnewski
Was erfahren wir von der Welt? Wie wahrhaftig sind Nachrichten? Wer sind die Tatsachenverbreiter oder Ereignisverfälscher in einer Zeit, in der anscheinend überall alles sichtbar wird und jeder alles im Internet veröffentlichen kann? In Deutschland wird das Wort Lügenpresse als verbaler Pranger für traditionelle Medienkanäle verwendet. Öffentlich-rechtliches Fernsehen und Radio, die großen Tageszeitungen und Nachrichtenmagazine und selbst die private TV-Stationen werden immer öfter als gesteuerte und gelenkte Meinungsverbreiter bezeichnet. Das Internet macht es möglich. Jeder klassisch transportierten Nachricht oder Meinung könnte heute quasi jeder öffentlich das Gegenteil entgegenhalten. Je öfter solche Inhalte geteilt werden, um so größer die Aufmerksamkeit. Aus Banalitäten werden Wichtigkeiten, Halbwahrheiten werden wahrhaftig und selbst Lügen mutieren offensichtlich zu Tatsachen.
Das sogenannte Meinungsmonopol, das in der Hand politisch kontrollierter Rundfunkanstalten oder von Medienkonzernen bestimmt wird, die maßgeblich von wenigen Familien gesteuert sind, löst sich offensichtlich unter dem millionenfachen Mitwirken von Nutzern in den sozialen Netzwerken auf. Eines muss bei allen Vorteilen, die der grenzenlosen Informationsverbreitung zugeschrieben wird, ganz deutlich gesagt werden: Es gibt keine Steigerung von Wahrheit und Objektivität, egal, wie viele Individuen auch immer mit Informationsbausteinen daran mitwirken wollten.
Man muss sich ein paar historische Fakten zu eigen machen, um zu verstehen, was Wissens- und Meinungsbildung beeinflusst. 1904 wird die Zahl der Journalisten in Deutschland auf 4.600 geschätzt. Zu dieser Zeit war die Anzahl der Zeitungen – an Radio und TV konnte damals niemand in künsten Träumen denken – begrenzt und auch die Leserschar blieb überschaubar. Heute arbeiten im Bundesgebiet rund 76.000 angestellte und freiberufliche Journalisten. Nicht einmal 5.000 Nachrichten- und Meinungstransporteure haben Deutsche fanatisch in den Feldzug für den 1. Weltkrieg geführt. Heute schafft es ein Vielfaches dieser Inhaltsproduzenten nicht, die Bürger des Staates in die eine oder andere Richtung zu beeinflussen.
Jeder aufgeklärte Mensch weiß heute, dass sich die Macht einer Wahrheit vorrangig daraus speist, wie viele Individuen sich ihrer annehmen und sie weiter verbreiten. In dieser schlichten Einsicht steckt der Kern, warum sich die richtige oder falsche Seite eines Geschehens nicht mehr so einfach herstellen lässt. Die veröffentlichte Meinung wird heute nicht mehr nur von strukturierten Medien verbreitet. Heute verbreitet sich jede Information, selbst solche, die völlig absonderlich ist und jeder Vernunft entgegensteht.
Wer sind nun die Informationsverbreiter? Auf der einen Seite haben sie von Berufs wegen Nachrichten aufschreiben und in den ihnen zur Verfügung stehenden Medien zu veröffentlichen. Die andere Seite bilden jene Netzaktiven, die professionellen Berichten täglich konträre Argumente und Meinungen entgegenhalten. Jeder, der sich daran beteiligt muss Zeit investieren. Neben Journalisten befleißigen sich also tausende User im Internet, um zu kommentieren, zu widersprechen, Gegenbeweise aufzuführen und entsprechend zu verbreiten. Es ist höchst wahrscheinlich, dass in der Internetgemeinde eine Vielzahl an Menschen aktiv ist, die nicht durch Arbeit und Konzentration auf berufliche Erfordernisse abgelenkt sind und deshalb in der Lage sind, dem Nachrichten-Mainstream mit eigen produzierten Inhalten zu begegnen. Wie wahrhaftig solche Informationen und Behauptungen sind, kann schwer gemessen werden. Die progressive Seite dieser Erscheinung ist, dass sichtbar wird, dass politische Doktrin auch nur verkürzte Interpretationen über gesellschaftliche Erscheinungen sind. Allerdings wird die verbreitete Gegenmeinung dadurch auch nicht wahrhaftiger.
Fakt ist, dass traditionelle Medien unter der Entwicklung an Einfluss auf die Deutung des Lebens verlieren. Insgesamt kommen schlichtweg zahlreiche Deutungsversuche hinzu. Das macht die Welt und die Einschätzung aller Ereignisse so schwierig und komplex. Es ist ausgesprochen positiv zu sehen, dass die bekannte Medienkanalisierung ein Gegengewicht erhalten hat und einseitige bzw. mangelhafte Darstellungen durch Internetinhalte bereichert oder sogar revidiert werden können. Irgendwo auf der Welt ist immer einer, der näher am Geschehen war, der über detaillierte Informationen verfügt und Mängel an Darstellungen ausräumen kann. Aber der uneingeschränkte Zugang und die niedrigen Hürden für die Nachrichtenverbreitung erlauben eben auch jedem Inhalte zu verbreiten, die mit der Realität wenig zu tun haben. In den sozialen Netzwerken verbreiten sich nicht nur besondere Ereignisse in rasanter Geschwindigkeit, sondern auch falsche Tatsachenbehauptungen, Lügen und Minipulationen. Bei Facebook wird geteilt, was spannend und interessant erscheint, was ungewöhnlich oder eben einfach anders ist als jede bisher veröffentlichte Nachricht.
Jede größere Interessengruppe, die über eine ausreichend große Schwungmasse an Interessenten verfügt, kann für einen Meinungshype im Internet sorgen. Es kommt nur darauf an, einen Köder so auszuwerfen, dass möglichst viele anbeißen und schon schwappt die Nachricht wie eine Flutwelle in alle Wohnzimmer mit Internetanschluss oder aufs Smartphone, dass für manchen heute schon wichtiger geworden ist als ein Auto.
Während sich Journalisten noch an Regeln halten müssen, wie die Überprüfung einer Informationen, ihrem Bericht eine Recherche zugrunde legen oder Ansichten verbreiten, die sie sich aus berufenem Munde eingeholt haben, können sich das Internetnutzer vielfach ersparen. Veröffentlicht wird oft, was sensationell anders ist oder wenigstens so daherzukommen scheint. Diese Möglichkeit machen sich vielfach Leute zunutze, die der Welt eine verschwörungstheoretische Beeinflussung einreden möchten. Natürlich lassen sich fast 7,4 Milliarden Menschen durch ein paar geheime mächtige Einzelpersonen lenken und verführen. Wer’s glaubt, wird selig.
Traditionelle Medien haben unter dieser Entwicklung längst die Meinungshoheit verloren. Das darf nicht beklagt werden, erklärt aber den schwierigen Überlebenskampf der nicht öffentlich finanzierten Presselandschaft. Außer den Kosten für einen Internetzugang muss man für Nachrichten nichts bezahlen – egal welche Qualität und Glaubwürdigkeit dahintersteckt. Die Medien mögen ihre Probleme unter dieser Entwicklung haben, ein noch viel größeres hat indes die Politik.
Bisher kamen politische Entscheidungen stets über die bekannten Medienkanäle an die Öffentlichkeit. Selbst Politiker informierten sich per Presse über Gegenmeinungen oder bisher unbekannte Argumente. Für die relativ wenigen Parlamentarier wird die veröffentlichte Meinung genauso unübersichtlich wie für jeden Bürger. Einfache Lösungen oder eine Hauptrichtung für Ansichten in der Bevölkerung sind quasi kaum überblickbar. Das ist einer der wesentlichen Gründe, warum politisches Agieren häufig als hilflos oder weltfremd wahrgenommen wird. In der Sphäre der gesellschaftlichen Normensetzungen kann niemand die Vielfalt der Strömungen angemessen einschätzen. Das bis dato abgeschottete Parlament, dass auf traditionelle Weise die Regeln des Lebens setzt, scheint deutlich mit der Meinungsexplosion überfordert. Jede Verteidigung politischer Argumente ist derart aussichtslos geworden, weil sie in Kürze von Tausenden Menschen im Internet auseinandergenommen werden kann. Oft jedoch mit genauso einfachen Generalisierungen wie die politischen Erklärungen selbst.
„Wir schaffen das“ ist aktuell der wohl meist diskutierte und kritisierte Satz von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Den drei Worten wird erst eine Wirkung und Kraft durch die millionenfache Auseinandersetzung in Medien wie im Internet verliehen. Die Merkel-Worte und ihre Folgen sollen hier nicht unterschätzt werden, aber wer glaubt, dass sich allein dadurch Hundertausende Flüchtlinge auf den Weg nach Deutschland gemacht hätten, unterliegt einer vereinfachten Deutung aus der Wohnzimmerperspektive heraus.
Aufgrund der heutigen Informationsmöglichkeiten muss jeder verbreiteten Nachricht mit noch mehr Skepsis begegnet werden. Natürlich spiegeln traditionelle Medien Interessengemenge und Meinungsspektren wider. Während dies einerseits durch die Informationsvielfalt im Internet deutlich wird, offenbart die Virtualität andererseits wie gutgläubig Menschen Nachrichten annehmen. Die wesentliche Folge dieser Entwicklung ist ein grundsätzlicher Verlust an Glaubwürdigkeit auf allen Ebenen. Zweifel wachsen überall dadurch, weil immer öfter Nachrichten infrage gestellt werden. Dieser Prozess ist unumkehrbar. Während sich institutionelle Medien heute für fehlerhafte Berichterstattung revidieren müssen, tauchen die Erzeuger von Falschmeldungen oder Lügen im Internet einfach ab. Tatsächliche Quellen für Behauptungen sind oft nicht erkennbar, verbreitet werden deren Inhalte dennoch.
Wer seine Informationen ständig aus einer Richtung speist, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er seine Einstellungen einseitig verstärkt und letztlich auf eine erfüllende Prophezeiung zusteuert. Die Deutung der Welt findet heute mehr und mehr in verengten Wohnzimmern statt. Mag man vor zwanzig Jahren die Erklärungshoheit noch allein TV, Radio und Zeitungen zugeschrieben haben, läuft sie jetzt darauf hinaus, welche Nachrichten und Meinungen sich jeder selbst auf den Bildschirm holt. Die Einseitigkeit klassischer Nachrichtenkanäle ist genauso kritisch zu beurteilen, wie die Meldungen von nicht nachvollziehbaren Quellen im Internet.
Wer allerdings ausschließlich auf solche Informationen baut, die ihm beispielsweise sogenannte verbundene Freunde auf Facebook zukommen lassen, muss sich nicht wundern, wenn die eigene Weltsicht auf ein Marmeladenglashozizont schrumpft. Trotz aller scheinbar grenzenlosen Verbreitungsmöglichkeiten, kann man durch das Internet schnell in einen verklärenden Nachrichten-Morast gezogen werden. Die Akteure an einer virtuellen Meinungsflut sind in der Regel grundsätzlich kluge Köpfe. Doch speisen und verbreiten sie ihre Meinungen sowie geteilte Inhalte auch nur aus der Wohnzimmerperspektive. Die Welt wird durch die Sichtbarkeit von Meinungsvielfalt eben nicht wahrhaftiger oder objektiver, sondern eher unübersichtlicher. Orientierungslosigkeit nimmt tendenziell zu, Glaubwürdigkeit insgesamt ab. Nichts an dieser Entwicklung soll aufgehalten werden, nur das Verständnis zur Vorsicht muss wachsen sowie die Sensibilität gegenüber jeder inhaltlichen Verbreitung.
Politik und Medien werden unter diesen Trends mit Sicherheit weiter an Einfluss und Bedeutung verlieren. Umso fraglicher ist, wer das Verständnis über die Welt und das eigene Leben bestimmt. Wer dies nur aus dem Internet begreifen möchte, hat noch wenig über die Bedeutung der eigenen Lebensrealität begriffen.