Wolfs Redlichkeiten: Urlaub im Urticetum

Gerald Wolf 2Die Tage werden länger, und stärker wird das Bedürfnis, mit der heimischen Tristesse Schluss zu machen: Mallorca und New York locken, Ahrenshoop, Bali, Garmisch, Rom und Hinterhermsdorf. Auch Kenia mit seinen Löwen und Zebras, zugucken, wie sich diese grässlichen Krokodile um ein halb aufgefressenes Gnu balgen. Oder in die Korallenwelt der Malediven eintunken. Oder in den Amazonas-Urwald. Aber warum nicht mal in das Urticetum? Das Urti… was?

Die Brennnessel-Gesellschaft ist gemeint (Urtica dioica, Große Brennnessel). Jawoll, sich einfach in die Nesseln setzen, mit Lesebrille, falls zur Hand, auch mit Lupe, und höchst zeit- und kostengünstig in diese vermeintlich ganz gewöhnliche Welt eintauchen. Vorsichtig natürlich. Winzige Hohlhärchen warten darauf, dass ihre Köpfchen abbrechen, sie so zur Spritzenkanüle werden, um Ameisensäure in die Haut zu injizieren. Unglaublich, was man da alles sieht, wenn auch nicht gleich auf einmal: Blattläuse, die ihre Rüssel in die Stängel bohren, Ameisen, die die Pflanzensaftsauger mit den Vorderfüßen betrillern, um überschüssigen Zucker abzumelken, goldgrün leuchtende (oder je nach Artzugehörigkeit blau- oder gelbgrüne) Rüsselkäfer, Spinnen verschiedenster Spinnenfamilien, die schwarzen Raupen des Tagpfauenauges mit ihren außerirdisch anmutenden Rückendornen, Röhrenschildläuse, die mit weißen Wachsstäbchen gepanzert sind. Und so weiter. Allein für Deutschland wird die Anzahl der Tierarten auf 40 bis 50 Tau-send geschätzt! Den Vogel schießen die Hautflügler (Wespen, Bienen, Ameisen) mit etwa 11 000 Arten ab, gefolgt von den Fliegen und Mücken mit 9000 und Käfern mit 8 000. Heutzutage gibt es oft gar keine Spezialisten mehr, die sich da auskennen. Und selbst ein Käferspezialist findet sich nicht in allen, sondern nur in ein paar wenigen Käferfamilien zurecht. Manche Insektenart wartet noch darauf, entdeckt zu werden. – Appetit bekommen? Nun, Sie müssen ja nicht gleich ein Entomologe werden, aber einfach mal hin-sehen und nicht wie gewöhnlich über diese Welt hinwegsehen. Dann noch den Fotoapparat auf „Makro“ gestellt und diese winzigen Wesen auf den Fernseher gezaubert – was für eine wundervolle Konkurrenz für all die Löwen und Zebras und Orcas und Flamingos, die sich dort gewöhnlich tummeln!

Der Autor: Gerald Wolf, Studium der Biologie und Medizin, Universitätsprofessor. Bis zu seiner Emeritierung (2008) war er Direktor des Instituts für Medizinische Neurobiologie an der hiesigen Universität. Autor hunderter Publikationen, darunter drei (Wissenschafts)Romane. 14-tägig ist er in der Sendung „GeistReich“ (MDR, ab 11 Uhr) zu erleben.