Kaum etwas wird von der Erwachsenenwelt mit so viel Sorge betrachtet wie das Aufwachsen der jungen Generation. Bisher haben noch alle Alten ihre Kritik über der Jugend ausgeschüttet. Dabei wäre manchmal ein Blick in den Spiegel hilfreicher, weil Erwachsene selbst die Fundamente für ihre Kinder legen.
Von Thomas Wischnewski
Die Zukunft gehört den Kindern, sagt die Gegenwart. Aus diesem Verständnis heraus möchte eigentlich jeder, dass dem Nachwuchs ein guter Weg ins Leben geebnet wird. Mit demselben Motiv wird die jüngste Generation jedoch stets kritisch beäugt und alles, was sich nicht harmonisch in die Muster der Erwachsenen einfügt, gern abgewiesen oder gar verteufelt. Solche Phänome sind sicher so alt wie die Menschheit selbst und sie bleiben Bestandteil des natürlichen Wandels im Werden- und Vergehen.
Wer der Generation Zukunft vor allem mit Ablehnung begegnet, sollte zuvor die eigenen Sichtweisen auf den Prüfstand stellen. Denn die Bedingungen, unter denen Kinder aufwachsen, setzten vergangene und gegenwärtige Generationen. Selbst- und Fremdbild passen aber selten deckungsgleich übereinander. Also wird in unserer Zeit gemessen, was das Zeug hält. Die Möglichkeiten des modernen Informationszeitalters ermöglicht eine Flut an Daten und Untersuchungen, die Eigenheiten, Trends und Abweichungen sichtbar machen, dass einem Hören und Sehen vergehen möchte. Verhaltensweisen, Gesundheitsaspekte, Wissen und Fähigkeiten – jedes noch so kleine Detail im Leben des Nachwuchses wird auf den Prüfstand gestellt, analysiert und interpretiert. Und dann erwächst aus diesen Ergebnissen eine Riesenbibliothek an wissenschaftlichen Empfehlungen und ein Labyrinth an Ratgeberliteratur, von der insbesondere Eltern schier erdrückt werden können. Die elterliche Sorge um das Gedeihen der eigenen Nachkommenschaft treibt manch sonderbare Blüte. „Helikoptereltern“ ist so ein Stichwort. Kürzlich rauschte ein Empörungsaufschrei durch die deutsche Medienwelt, wonach in Deutschland nur lauter „kleine Narzissten“ heranwachsen. Die Welt der Erwachsenen malt eine schwarze Zukunft, an der sie selbst nicht mehr teilhaben werden.
Die Frage der Zeit sollte vielleicht besser lauten: Welchen Wahnsinn erzeugt eigentlich das unaufhörliche Beobachten, Messen und Bewerten? Hilft die Entrüstung, und was hat diese mit einer Zeit zu tun, die wir nicht mehr erleben? Das Augenmerk sei auf ein Phänomen gelenkt, über das in der Gesellschaft offensichtlich kaum nachgedacht wird: Eine wachsende Anzahl an erwachsenden Individuen besieht sich eine zahlenmäßig schrumpfende Kinderschar. Eltern, Großeltern, Lehrer, Politiker, Ärzte und Wissenschaftler vieler Disziplinen betrachteten den Nachwuchs schon immer, aber vor s40 Jahren und mehr verteilte sich die Aufmerksamkeit auf viel mehr Kinderschultern als heute. Es darf also angenommen werden, dass der Erwartungsdruck aus allen gesellschaftlichen Sphären auf die Jüngsten enorm angestiegen ist. Das scheinbar negative Bild könnte ein vielfach selbst erzeugtes Wahrnehmungskuriosum sein.
Noch jedem Elternteil dürfte aus eigenem Erleben aufgehen, dass wohlmeinende Unterweisungen bei Kindern selten ankommen. Diesbezüglich stellt uns die Natur vor ein Dilemma. Wir wollen mit dem Wissen und allen Erfahrungen, die Nachkommenschaft vor Fehlern schützen und ihnen Wege erleichtern. Doch jeder ist nun einmal dazu verdammt, selbst ein Leben zu absolvieren und niemand kann das Leben eines anderen fühlen, auch Eltern das der Kinder nicht.
Das Element der Jugend ist die Natur der Schöpferkraft. Jede Generation muss eigenes hervorbringen. Das wird heute zuerst im Musik- und Modegeschmack sichtbar oder manchmal in irritierend fremden Träumereien. Später drückt sich die Entstehungsenergie in der Gründung einer Familie, im Bau eines Eigenheimes, im beruflichen Werdegang, im Aufbau eines eigenen Unternehmens oder in der Leidenschaft eines Hobbys aus. Erst nach den eigenen Erfahrungen des Schaffens und Scheiterns beginnen Menschen, Errungenschaften von Vorgenerationen zu schätzen. Aus diesem Kreislauf gibt es kein Entrinnen.
Was sich wirklich wesentlich geändert hat, sind die Auswirkungen eines Arbeits- und Lebenswandels. In Einkind-Partnerschaften kümmern sich beide Elternteile um das Fortkommen der Schützlinge. Dazu kommen die Verwöhnprogramme der Großeltern. In Sachsen-Anhalt kamen 2013 durchschnittlich 18,3 Grundschüler auf einen Lehrer (Bundesdurchschnitt: 20,7). Das sind die kleinsten Klassenverbände aller Bundesländer. Man darf annehmen, dass das Fürsorgepotenzial stark gestiegen ist. Gleichfalls verlängerten sich sogenannte Orientierungsphasen – eine Zeitspanne die bis in die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gänzlich unbekannt war. Die Möglichkeiten des Internets eröffnen einen nie dagewesenen Zugang zu Wissen. Und trotzallem hört die Nörgelei an den Heranwachsenden nicht auf.
Sicher müssen wir heute Kinder kritisch bei der Nutzungsdauer von Smartphones und anderen Online-Endgeräten beobachten – die durchschnittliche Beschäftigungszeit soll bei Jugendlichen bereits fünf Stunden täglich betragen. Dort kann schließlich nur eine Scheinwelt gesehen werden und kein reales Leben. Manches Mal erhält man den Eindruck, als seien die Bilder von der Welt wichtiger geworden als die Welt selbst. Wenn der Wandel aber weiter in diesen Trend wächst, kann es nicht verwundern, dass es eine Wertverschiebung hin zu mehr Virtualität gibt. Dingliche materielle Güter verlieren darunter möglicherweise an Bedeutung. Wir können heute über alles orakeln und doch stets daneben liegen.
Laut ist häufig auch die Sorge, dass Kinder in ihren Entfaltungschancen aufgrund mangelnder pädagogischer Konzepte oder engen Grenzziehungen, beschnitten würden. Man solle sie machen lassen, damit sie kreativer sein können und sich mehr zutrauen. Anderenfalls würden sie zu gehorsamen Erfüllungsgehilfen und willenlosen Geschöpfen herangezogen. Mit solchen Vorurteilen ist man schnell bei der Hand. Fakt ist, dass bisher kein historischer Beweis existert, dass Gesellschaften ohne Anerkenntnis von Organisation und Hierarchie erfolgreich gewesen wären. Die Forderung nach möglichst allem, nach Grenzenlosigkeit und Totalentfaltung führt wohl eher in Chaos und Orientierungslosigkeit.
Vor Beschwernissen, Frustrationen und Tiefschlägen möchten Eltern im liebenden Ansinnen ihre Kindern gern beschützen. Dabei ist es genau das Meisterung solcher Hürden, das gesunde Willenskraft, Leistungsfähigkeit, Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühle fördern. In emotionale und empathische Nähe sollte ein Fördern und Fordern eingebunden sein. Entwickelt sich ein Sprößling nicht so, wie Eltern oder auch Lehrer das erwarten, wird heute schnell psychologische Hilfe eingeholt. Eine Diagnose beruhigt schließlich das Gewissen, weniger für die Wesensausprägung des Kindes verantwortlich zu sein. Jede Hoffnung ruht dann auf einem entsprechenden Therapeuten, der den Nachwuchs wieder auf den rechten Weg führen soll. Der eigene Blick in den Spiegel fällt meistens schwerer.
Kinder werden in die Selbstverständlichkeit des Lebens geboren. Sie fragen nicht, warum Eltern da sind. Alles um sie herum hat zunächst keine Entstehungsgeschichte, bevor sie die eigene nicht erfahren können. Es nutzt wenig, ihnen eine schlechtere Zukunft zu malen oder ihnen eine bessere vorzugaukeln. Sie müssen eigene Wege finden und weniger im Orakel über ihr Leben lesen. Das hat viele Fehler.