Als die Bilder laufen lernten, musste man noch zu ihnen hin laufen. Ganz im Gegensatz zur Gegenwart, in der einem die laufenden Bilder laufend hinterherlaufen bzw. durch den Alltag begleiten. Dass sich vor dem Auge eines Betrachters vor über 100 Jahren Bilder bewegten und den Anschein vermittelteten, da ginge etwas nicht mit rechten Dingen zu, würde man heute beschmunzeln. Doch was nicht selbstverständlich ist, das wird argwöhnisch beäugt. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts galten Malerei und Druck als die einzigen reproduktiven Verfahren, um Bilder „sprechen“ zu lassen. Die Fotografie brachte die Wende. Zunächst hatte der französische Advokat Joseph Nicéphore Niépce begonnen sich mit Lithografie zu beschäftigen. 1829 benutzte er zusammen mit Daguerre eine mit Asphalt, Jod und Silber beschichtete Kupferplatte. Die vermutlich 1826 bis 1827 entstandene, erst 1952 wieder aufgefundene, älteste erhaltene Heliographie auf Zinn erforderte noch eine Belichtungszeit von mehreren Stunden. Sie zeigt den Blick aus dem Arbeitszimmer im Teil des Niépce-Landsitzes in Le Gras.
Parallel entwickelte sich die Optik und neue chemische Verfahren konnten die Belichtungszeiten verkürzen. Dem Fotografen Eadweard Muybridge gelang 1872 erstmals Serienfotografien eines galoppierenden Pferdes anzufertigen. Später erfand er auch ein Vorführgerät für seine Fotografien, das Zoopraxiskop. Damit war der Grundstein für den Erfolg des Kinos gelegt. In Magdeburg begannen die Flimmerstunden 1896 im kleinen Saal des „Fürstenhofes“.
Neues erzeugt Neugierde, wird bestaunt und mit steigendem Interesse zu einem Massentrend. Der Film war Anfang des 20. Jahrhunderts das neue Medium für Fantasie-, Illusionsverbreitung, Inszenierung und Nachrichten. Jetzt konnte man neben den Spaziergängen durch die Natur, neben Musik und Tanz, Theater und Markttreiben einer völlig neuen Freizeitbeschäftigung nachgehen. Bevor Film und Kino jedoch eine Erfolgsgeschichte wurden, begegnete die breite Öffentlichkeit dem Medium zunächst mit viel Skepsis. Erst als sich allgemein herumgesprochen hatte, dass die Vorführungen in Kinos eine faszinierende Sache waren und das Anschauen von flimmernden Filmstreifen keine bleibenden Schäden hinterließ, war der Durchbruch für eine gänzlich neue Kultur gelungen. Kinos ermöglichten damals den Blick in die Welt. Reiseunternehmungen in ferne Länder oder auf andere Kontinente war nur solventen Zeitgenossen möglich.
Mit der Verbreitung der laufenden Bilder begann auch der Siegeszug des Automobils. Im Bewusstsein der Menschen entstand eine enorme Beschleunigung des Lebens. Damals wurden negative Folgen dieser Veränderungen als sogenannte „Erschöpfungsdepression“ bezeichnet. Heute gibt es dafür den Begriff „Burn-out“. Kinos konnten die Horizonte der Allgemeinheit erweitern. Doch gleichsam schuf das neue Medium und die wachsende Mobilisierung auch Verunsicherung über die Zukunft. Man saß wohl im Kino, sah und hörte Geschichte und Geschichten aus der Fremde. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte wurden Nachrichten nicht mehr ausschließlich in Schriftsprache verbreitet. Jetzt kam die entfernte Welt quasi in einer Art „Wirklichkeit“ direkt vor das Auge ihrer Betrachter.
Die Kraft der Bildersprache erreichte mit der Massenverbreitung auf Leinwänden eine neue Dimension. Was wie und auf welche Weise im Film zusammengeschnitten wurde unterlag den Bewertungsmaßstäben ihrer Macher. Faszination über Außergewöhnliches und Manipulationen durch besondere Hervorhebungen sind die zwei Seiten derselben Medaille namens Film. Die Nationalsozialisten perfektionierten die Mittel und Methoden der neuen Technik, um erfolgreich Werbung in eigener Sache zu betreiben. Sie waren die ersten Meister der Propaganda. Filmtheater hatten in dieser Zeit das Monopol für die Popularisation bewegter und bewegender Bilder. Was man mit den eigenen Augen gesehen hatte – und das galt für die Wochenschau und andere filmische Berichtsformen unvoreingenommen – war ein Beleg für Wahrhaftigkeit. Die vorsätzliche Auswahl, Beeinflussung, Dramatisierung und Inszenierung von Darstellungen wurde einer breiten Bevölkerung erst nach dem 2. Weltkrieg bewusst.
Heute hat das Kino längst die Rolle als alleiniger Meinungsbildner als Bildertransporteur an Fernsehen und Internetportale verloren. Seit die Bilder in Bits und Bytes aufgezeichnet und abgespielt werden können, ist das Video der Massenfilm für jedermann geworden. Die Macht der Bilder und deren massenhafte Verbreitung ist ungebremst auf dem Vormarsch. Jeder kann heute selbst Filmproduzent sein. Man trägt die Videokamera mit dem Smartphone in der Tasche und übt sich im Gebrauch die eigenen Filmchen anderen digital anzutragen.
Dem Leinwandbetrieb bleibt das Gemeinschaftserlebnis und häufig noch die Vorreiterstellung bei der Einführung großer Kinofilme. Man könnte die Frage stellen, ob sich Filmkonsum weiter in die Privatsphäre zurückziehen wird? Mit jedem wachsenden Nutzungspotenzial im heimischen Wohnzimmer bröckelt zugleich ein wenig bisher gelebte Kultur. Das mag man bekritteln, es ist jedoch weniger die Folge neuer Technologien, sondern vielmehr wie eine zunehmende Anzahl an Individuen die eigene Lebenszeit nutzt.
In Magdeburg brachten 1940, zu Kino-Glanzzeiten, 33 Filmtheater bewegte Bilder auf ihre Leinwände. Über 20.000 Plätze hielten die Kinos bereit. In einer Woche wurden also statistisch 140.000 Menschen mit Unterhaltungsstreifen und Filmnachrichten versorgt. Der Gang ins Kino war zu einem selbstverständlichen Freizeitvergnügen geworden. Mit den entsprechenden Zugängen kann man heute jeden Film zu jeder Zeit sehen. Das ist natürlich bequem, und es verwundert nicht, dass unter all diesen Möglichkeiten der Konsum bewegter Bilder steigt. Vielleicht reduziert sich unter der Entwicklung andererseits die Chance, sich zu verabreden, sich zu begegnen und gemeinsame Erlebnisse zu schaffen. Diesen tieferen und schönen Sinn sollte man sich bei aller alltäglichen Filmflut immer Mal wieder ins Bewusstsein rücken. (tw)