Die meiste Zeit seines Lebens hat Manfred Matthies auf dem Wasser verbracht. Bei Sturm, wenn Meter hohe Wellen das Schiff aus dem Gleichgewicht zu bringen schienen und es – wie vor Tollwut schäumend – in der Gischt zu beerdigen drohten. Und auch bei Flaute, wenn das Schiff mit schlaffen Segeln bewegungslos auf bleierner See ruhte. Was für manche Menschen nach Urlaub und Abenteuer klingt, war für den 76-Jährigen stets harte Arbeit. Rudern. Segel raffen. Kohle schippen. Netze auswerfen und wieder einholen. Kaum eine Arbeit, die Manfred Matthies in all den Jahren nicht erledigt hätte. Und obwohl er nicht nur gute Erinnerungen an seine Zeit auf den Weltmeeren hat, vermisst er die See umso mehr – jetzt, da er wieder nach Magdeburg zurückgekehrt ist. In seine Heimat, die er aus vielerlei Gründen lange Zeit gemieden und wo alles seinen Anfang genommen hatte.
1940 wurde Manfred Matthies in Magdeburg geboren. „Wir wohnten in der Neustadt – wo der Nordpark ist. Dort bin ich auch zum Kindergarten gegangen und da gab es einen Luftschutzbunker, wo wir uns in Sicherheit bringen konnten“, erinnert sich der 76-Jährige an den Zweiten Weltkrieg. „Drei Mal wurden wir ausgebombt.“ Seine Augen glänzen während er von seiner Kindheit erzählt. Sie glänzen auch, als er von der ereignisreichen Zeit auf See berichtet. Doch das ist ein anderer Glanz – voller Aufregung, Stolz und ein bisschen Wehmut. Die Erinnerungen an die (Nach-)Kriegszeit sind freilich schmerzlich und verleihen seinen Augen – betont durch das wettergegerbte Gesicht – einen Glanz der Traurigkeit. „Wenn man sich die alten Fotos anschaut und betrachtet, wie die Stadt heute aussieht …“ Manfred Matthies schüttelt den Kopf und fährt schnell fort, um diese Gedanken wegzuwischen: „Als der Krieg vorbei war, wurde ich nach Aken geschickt und später zu meinem Großvater, der in Olvenstedt lebte.“
In dieser Zeit entdeckte er auch sein Interesse für Schiffe. „Das fing mit einfachen Bastelarbeiten an. Und irgendwann baute ich Schiffsmodelle, die ich auf der Sülze fahren ließ.“ Seiner Mutter war das Faible für die Nautik nicht entgangen und so bestärkte sie ihn, sich auch beruflich auf den Schiffbau zu konzentrieren. „Also absolvierte ich eine Lehre auf der Werft im Winterhafen und ging zur Schule in Rothensee. Dort haben wir Jollen gebaut, die auch Probe gesegelt werden mussten.“ Auf diese Weise brachte sich Manfred Matthies das Segeln selbst bei. Die Prüfungen im Bereich Schiffbau legte er schließlich an der Marineschule im Rotehornpark ab, bevor der maritime „Ernst des Lebens“ begann. „Ich wurde nach Greifswald an die Marineschule geschickt, wo wir auf Schiffen ausgebildet und trainiert wurden, die einem größeren Kaliber als die in Magdeburg entsprachen.“ Die Marineschule „August Lütgens“ in Greifswald-Wieck war von 1954 bis 1989 die zentrale vormilitärisch-maritime Ausbildungsstätte der Gesellschaft für Sport und Technik – die größte Marineschule der DDR.
Seine Heimat vertrat Manfred Matthies Mitte der 1950er Jahre bei den Republikmeisterschaften in Stralsund. „Ich war zuvor schon einige Regatten auf der Elbe gefahren, am liebsten mit der Piratenjolle – ein robustes Boot, das eine sportliche Herausforderung darstellt und in Bezug auf die Technik recht anspruchsvoll ist.“ Die Sehnsucht nach dem Meer sei damals immens gewesen, schildert er heute nüchtern. Deshalb, und aufgrund der politischen Lage, entschied er sich 1958 die DDR zu verlassen. Auf einem Fischdampfer heuerte er an, war damit im Nordatlantik unterwegs und arbeitete als Schiffszimmermann bei der 1871 gegründeten Reederei Hamburg Südamerikanische Dampfschifffahrts-Gesellschaft – kurz Hamburg Süd. „Das waren interessante Jahre, mit ersten Abenteuern, die einen jungen Kerl, der ich damals war, beeindruckten.“
Doch lange hielt es den gebürtigen Magdeburger nicht in Westdeutschland. „Je mehr Zeit ich an einem Ort verbrachte, desto unruhiger wurde ich“, beschreibt Manfred Matthies sein Verlangen nach Abwechslung. Es folgten fünf Jahre in der Schweiz. Der Alltag schwankte – teils jahreszeitlich bedingt – zwischen dem Bauen von Booten (meist Drachenboote, aber auch ein eigenes Segelboot), Skifahren und der Teilnahme an Regatten auf dem Bodensee. Magdeburg stattete er in all den Jahren nicht einen einzigen Besuch ab. „Das DDR-Regime hielt mich von zu Hause fern, meine Mutter habe ich in dieser Zeit nur einmal gesehen.“ Statt der Nähe zur Heimat suchte Manfred Matthies die Flucht in die Ferne. Das nächste Ziel: Australien.
„Dort blieb ich immerhin zehn Jahre – bis 1975“, sagt er mit einem breiten Lächeln und zählt sogleich auf, was er Down Under erlebt hat. „Auf etlichen Schiffen, auf denen ich angeheuert hatte, fühlte ich mich ausgenutzt, weil ich rund um die Uhr im Einsatz war und Arbeiten erledigen musste, die gar nicht in meinen Bereich fielen. In Sydney änderte sich dies glücklicherweise, denn dort herrschten durch den Einfluss der Gewerkschaften deutlich bessere Bedingungen.“ Als Bootsbauer war der 76-Jährige bei der Marine-Werft tätig und hatte gleichzeitig die Möglichkeit, als Schiffszimmermann Urlaubsvertretungen bei der australischen Handelsmarine zu fahren. „Viele großartige Eindrücke habe ich in dieser Zeit gesammelt – bis nach England waren wir unterwegs, haben zwölf Inseln im Pazifik besucht, darunter Hawaii und Tahiti, und sechs Mal den Äquator überquert. Glücklicherweise konnte ich auch ein wenig Freizeit nutzen, um Australien auf einer Rundreise zu erkunden“, erzählt Manfred Matthies und grinst angesichts der Erinnerungen an seine Fahrt mit einem alten Peugeot 404.
Mitte der 70er Jahre verschlug es den gebürtigen Magdeburger wieder nach Europa. „Die meiste Zeit meines Lebens habe ich in Cannes verbracht – von 1975 bis 2015.“ Die Côte d’Azur bot dem Deutschen ein gutes Arbeitsumfeld. Zahlreiche Segel- und Motor-Yachten wollten überführt werden und Manfred Matthies war ihr Kapitän. Zu den Auftraggebern zählten namhafte Personen wie Arndt von Bohlen und Halbach, letzter Spross der Krupp-Dynastie, russische, griechische und saudische Oligarchen sowie der damalige Besitzer der Fluggesellschaft Pan Am. „Ich hatte damals das Gefühl, in einer grenzenlosen Welt zu leben“, meint der 76-Jährige und zählt mit Athen, Dubai, Miami und Antigua nur einige seiner Ziele auf.
Insgesamt vier Mal hat Manfred Matthies in all den Jahren die Welt umrundet. Im Alter von 75 Jahren entschied er sich, die Arbeit auf den Weltmeeren aufzugeben. „Es ist körperlich sehr anstrengend, egal, welche Tätigkeit man auf einem Schiff ausführt. Und irgendwann muss man sich einfach eingestehen, dass es so nicht mehr weitergehen kann.“ Nachdem er sich für ein dauerhaftes Leben an Land entschieden hatte, gab es für den Magdeburger nur eine Richtung: zurück in die Heimat, obwohl seine Frau noch in Cannes lebt. „Die Miete und andere Lebenshaltungskosten sind hier um ein Vielfaches günstiger und die Menschen sind deutlich offener und freundlicher als in Cannes.“ Auch wenn sich nach Meinung des 76-Jährigen Magdeburg zum Positiven entwickelt hat und eine lebenswerte Stadt ist, so vermisst er doch das Klima Südfrankreichs und natürlich das Meer. „Aber die Elbe entschädigt dafür ein kleines bisschen.“ Tina Heinz