Chronologie eines Nichtankommens

FlughafenReisen bildet, so sagt man. Also macht sich der Reisende auf den Weg, die Welt zu erkunden und verzweifelt manchmal schon zu Beginn …

Tina Heinz

Man reist nicht, um anzukommen, sondern um zu reisen“, formulierte Johann Wolfgang von Goethe einst in seinen Gesprächen mit Caroline Herder. Aber irgendwann würde der Reisende doch gern sein Ziel erreichen … eben ankommen. So wie damals, als wir uns zu zweit auf den Weg nach Minnesota machten. Ein paar Flugstunden ist der flächenmäßig zwölftgrößte Bundesstaat der USA, an der Grenze zu Kanada gelegen, entfernt. Doch die Anreise sollte uns wie eine Ewigkeit vorkommen.
Erste Etappe: Die Fahrt nach Frankfurt am Main verläuft weitestgehend problemlos. Keine Staus auf den Autobahnen. Keine Nachrichten im Radio über abgestürzte Flugzeuge oder andere Katastrophen. Kein Hochschrecken kurz vor der Ankunft am Flughafen, weil zu Hause doch etwas vergessen wurde. Kein Umherirren auf der Suche nach dem richtigen Terminal.
Zweite Etappe: Da stehen wir nun, in einem Gebäude des drittgrößten europäischen Flughafens … zwei von etwa 61 Millionen Passagieren, die hier jährlich ankommen oder abfliegen. Ein kurzer Blick auf die Anzeigetafel bestätigt uns, dass alles im grünen Bereich ist. Wir stellen uns am Schalter der United Airlines den lästigen Fragen des Bodenpersonals. Warum reisen Sie in die Vereinigten Staaten? Wie lange dauert Ihr Aufenthalt? Haben Sie terroristische Absichten? Wer hat Ihren Koffer gepackt? Haben Sie Ihren Koffer seit dem Packen unbeaufsichtigt gelassen? Ein belustigendes Frage-Antwort-Spiel, über das wir uns auch noch amüsieren, als wir die Sicherheitskontrollen passieren. Bis ein Herr mit grimmiger Miene zum Ausziehen der Schuhe auffordert. „Das sind ja schlimme Arbeitsbedingungen“, erwidere ich noch immer kichernd, doch seine Gesichtszüge wollen sich nicht entspannen. Vermutlich muss er sich den ganzen Tag dämliche Sprüche anhören.
Nachdem wir die Kontrollen überstanden und einen Marathon durch den Airport bewältigt haben, um zum richtigen Gate zu gelangen, lassen wir uns auf die Stühle sinken. Nicht mal eine Stunde bis wir an Bord gehen können. Gespräche, Durchsagen, Rascheln von Zeitungspapier. Auch ich beginne zu lesen … in einem Buch … die ersten Seiten, ein paar Kapitel. Die Fluggäste um uns herum sitzen geduldig am Gate und warten auf den Aufruf, das Flugzeug „stürmen“ zu dürfen. Weitere Seiten, weitere Kapitel. Das Buch entpuppt sich als sehr spannend. Als ich mich dazu durchringen kann, den Blick von den Buchstaben zu lösen, stelle ich entsetzt fest, dass wir vor zehn Minuten hätten abheben sollen. Für einen kurzen Moment ergreift mich ein Gefühl der Panik. Um uns herum geduldig wartende Menschen. Gespräche, Rascheln von Zeitungspapier, keine Durchsagen.
Dritte Etappe: Mit einer Verspätung von mehr als 60 Minuten dürfen wir endlich an Bord des Fluges von Frankfurt am Main nach Pittsburgh, Pennsylvania. Den Grund für den Verzug sollten wir nie erfahren. Auch nachdem sich die Maschine in die Luft erhoben und das europäische Festland hinter sich gelassen hat, können wir nicht entspannen. Wann werden wir landen? Werden wir unseren Anschlussflug nach Minnesota erreichen? Und was, wenn nicht? „Relax“, sagt ein Soldat der United States Air Force, der mit uns in einer Reihe sitzt. Während der nächsten Stunden erfahren wir viel von ihm und über ihn. Dass er auf der Ramstein Air Base stationiert ist. Dass er für ein paar Tage zu seiner Familie nach Atlanta darf. Und dass seine Mutter ihm regelmäßig Pakete voller Süßigkeiten schickt – als gäbe es in Deutschland keine gute Schokolade. Er hält uns einen großen Beutel voller Schokoriegel, bunter Bonbontütchen und Kaugummis vor die Nase. Der Überschuss an Süßigkeiten wird reimportiert, falls der Soldat ihn im Flugzeug nicht loswird. Wir kommen seiner Aufforderung nach und greifen zu. Doch Pittsburgh erreichen wir deshalb auch nicht früher.
Vierte Etappe: Zum ersten Mal während unserer Reise betreten wir mit der Ankunft in Pittsburgh US-amerikanischen Boden. Das bedeutet: Gepäck auschecken, wieder einchecken und zwischendurch zahlreiche Fragen des Sicherheitspersonals beantworten. Warum reisen Sie in die USA? Sind Sie Mitglied einer terroristischen Organisation? Wie lange werden Sie sich in den USA aufhalten? Wann und warum wollen Sie wieder abreisen? Ich möchte die Dame, die nur ihren Job erledigt, anschreien … sie und ihre blöden Fragen dafür verantwortlich machen, dass wir unseren Anschlussflug verpassen. Vermutlich keine gute Idee. Also nicke ich freundlich und wünsche ihr einen schönen Tag.
Während wir weiter hasten, beobachten wir, wie unser Gepäck, nachdem wir es wieder aufgegeben hatten, auf einen Haufen geworfen wird. Zwei große Koffer-und-Taschen-Berge stapeln sich in der Halle des Flughafens. Schulterzucken. Merkwürdige Sitten sind das hier. Doch wir haben keine Zeit, uns darüber Gedanken zu machen. Denn unser Anschlussflug hatte sich soeben auf das Rollfeld begeben, leider ohne uns an Bord. Wir suchen den United-Airlines-Schalter, finden ihn in der einen Ecke des Flughafens, stellen fest, dass er nicht besetzt ist und laufen zu dem Gate, an dem wir uns schon vor einer Stunde hätten einfinden sollen, in einer anderen Ecke. Der Herr, der dort Posten bezogen hat, lächelt freundlich, als wir ihm das Problem erklären und stellt uns ohne Umschweife zwei Tickets für den nächsten Flug zwei Stunden später zur Verfügung.
Zwei Stunden später eine Durchsage: Der Flug United Airlines (es folgt eine Aufreihung diverser Zahlen) nach Minneapolis-Saint Paul International Airport muss aufgrund technischer Probleme leider ausfallen, die nächste Maschine steht erst in zwei Stunden zur Verfügung. Wir warten. Telefonieren. Hinterlassen der Person, die uns vom Flughafen abholen soll, Nachrichten. Spazieren durch das Flughafengebäude. Warten noch länger. Telefonieren erneut, um uns mitteilen zu lassen, dass uns zur geplanten Ankunftszeit niemand vom Flughafen abholen kann. Zum Glück haben wir noch einige Schokoriegel des US-Soldaten zur Hand.
Fünfte Etappe: Irgendwann, ja, irgendwann dürfen wir wirklich an Bord einer intakten Maschine, die uns jenseits der Großen Seen bringt. Unser Gepäck hat es leider in eine andere Richtung verschlagen und soll am nächsten Tag von Atlanta nach Brainerd, unserem Ziel in Minnesota, geschickt werden. Auch gut, denken wir. So müssen wir wenigstens nur auf unser Handgepäck aufpassen, während wir die Nacht am Minneapolis-Saint Paul International Airport verbringen. Es ist bereits nach Mitternacht. Ein Hotelzimmer zu suchen, erscheint uns nun sinnlos, da wir früh am nächsten Morgen mit dem Bus weiter Richtung Norden fahren wollen.
Zur Nachtruhe machen wir es uns auf einer Stuhlreihe im Erdgeschoss gemütlich, die jedoch jäh endet, alt eine Gruppe Afroamerikaner trommelnder Weise durch das Gebäude zieht, um ein Familienmitglied oder einen Freund abzuholen. Also verlegen wir unsere provisorischen Betten eine Etage höher. Neue Stuhlreihe, neues Glück. Handgepäck unter dem Kopf verstaut, Augen zu und … Ding-dong – Achtung eine Durchsage … Wenige Minuten später kommen wir wieder zur Ruhe. Die Augenlider fallen erneut zu. Für kurze Zeit entschwinden wir ins Land der Träume, bis uns eine Reinigungsmaschine in die Realität zurückholt. So vergeht die Nacht mit langen Wachphasen und deutlich zu kurzen Schlafphasen.
Sechste Etappe: Auf dem Weg ins Untergeschoss, wo sich die Schalter der Fernbus-Linien befinden, stolpern wir über unser unbeaufsichtigtes Gepäck, das es schon früh aus dem Süden des Landes in den Norden geschafft hat. Super! Nehmen wir gleich mit, müssen Sie uns nicht mehr hinterherschicken! Erleichtert, wenigstens unsere sieben Sachen erhalten zu haben, stürzen wir zum Schalter der Jefferson Lines. Doch der ist natürlich nicht besetzt. Heißt das, heute fährt kein Bus in den Norden? Doch, doch … 7.30 Uhr, versichern uns die Mitarbeiter anderer Buslinien und erklären uns, wo wir die richtige Haltestelle finden, um auf den richtigen Bus zu warten.
Mit all unserem Gepäck rennen wir aus dem Flughafen hinaus, fahren mit einem Shuttle zum Busbahnhof, vergewissern uns, dass wir hier richtig sind und warten. Wir warten so lange, bis sicher ist, dass der Bus nicht mehr kommen wird. Mit hängenden Schultern begeben wir uns wieder in das Untergeschoss des Flughafens, aber keine der anderen Buslinien fährt in „unsere“ Richtung. Mit manisch grinsender Miene machen wir Scherze – es sei wohl einfacher zurück nach Frankfurt zu fliegen, als die letzten paar Kilometer zu bewältigen – als uns der Fahrer eines Überlandtaxi-Unternehmens einen Ausweg anbietet. „Ich kann euch ein Stück mitnehmen. 32 Dollar bis nach St. Cloud.“ Einverstanden, so bewegen wir uns dem Ziel wenigstens ein bisschen näher.
Siebte Etappe: Der Taxifahrer lädt uns am Holiday Inn in St. Cloud ab. Was nun? „…chillin at the Holidae In…“ Mir kommt Snoop Doggs Song in den Sinn und ich fühle mich so, wie sich der dauerkiffende Rapper fühlen muss. Wir stehen in der Sonne, es ist viel zu warm. Frühstück ist bei all dem Stress auch ausgefallen. Einzige Zuflucht bietet das Hotel. Die Dame am Empfang blickt etwas komisch drein, als wir nach einer Möglichkeit zum Telefonieren fragen. Vielleicht hat sie keine Entscheidungsgewalt über die Kommunikationsmittel. Also holt sie den Manager, der sich nach unserem Wohlergehen erkundigt, uns zum Frühstück ins Hotel einlädt und sich geduldig die Chronologie unserer Tort(o)ur anhört.
Dann telefoniert er, sucht im Internet und verkündet resigniert, dass heute keinerlei öffentliche Verkehrsmittel mehr Richtung Brainerd fahren. Zum Mond zu fliegen wäre wohl einfacher … Aber aufgeben können wir nicht. Nicht so kurz vor dem Ziel. Und als wir schon überlegen, einen Zimmermädchen-Job im Holiday Inn anzunehmen, passiert tatsächlich noch ein Wunder. Wir erreichen endlich die Person unseres Vertrauens via Telefon, die sich sofort mit dem Auto auf den Weg macht, uns abzuholen.
Stille. Das Geräusch des Motors, der Räder auf dem Asphalt, die Kakophonie aus dem Radio – nichts davon dringt an mein Ohr. Die Landschaft zieht geschwind an uns vorbei. Und als wir im weißen SUV zum ersten Mal den mächtigen Mississippi überqueren, frage ich mich, ob eine Überquerung des Atlantiks auf der Mayflower wohl anstrengender oder nervtötender gewesen sein mag … Mehr als 40 Stunden nach Reiseantritt haben wir unser Ziel erreicht.