Das leise Klingeln der Weihnacht

Da war es wieder! Sie spitzte die Ohren. Seit Jahren hatte sie die Glöckchen nicht mehr gehört. Fast klang es wie früher, als sie wusste, der alte bärtige Mann würde jeden Moment zur Tür hereinkommen. Langsam ging sie die Treppe hinauf und wollte dem Klingeln entgegenhorchen. Vielleicht war es nur die Katze, die sich auf dem Dachboden in dem verstaubten Weihnachtsschmuck verfangen und die Glöckchen zum Spielen auserkoren hatte. Dennoch schlug ihr Herz schneller. Sie hielt inne. Ihr kamen die Gedanken an die Weihnachtsabende auf, an denen sie an der Seite ihrer Geschwister, mit Mutter und Großeltern auf den großen Mann mit den vielen Geschenken gewartet hatte. Der Alte mit weißem Rauschebart und rotem Mantel war ihr irgendwie bekannt vorgekommen. Ein Lächeln schmückte ihre Lippen, als sie sich erinnerte, wie sie der etwas gruseligen Erscheinung einmal mutig den Bart weggezogen hatte. Das freundliche Gesicht ihres Vaters kam zum Vorschein. Nach kurzem Schock freute sie sich, dass ihr Vater den Weihnachtsmann in den letzten Jahren keineswegs verpasst hatte, sondern er die ganzen Geschenke brachte. Auch wenn sie nun wusste, wer unter Bart und Mütze steckte, so musste ihr Vater auch die folgenden Jahre in die Kostümierung schlüpfen und laut an der Tür klopfen. Und immer vernahm sie das Klingeln der kleinen Glöckchen. Sie stieg weiter die Treppe hinauf. Die freudigen Erinnerungen an ein geselliges Fest schlugen in Wut um. Vor Jahren hatte sie sich mit ihrem sonst so liebevollen Vater zerstritten. Kleinigkeiten. Worum es tatsächlich ging, konnte sie nicht mehr sagen. Umso mehr kränkte sie es, dass sie zu den letzten Weihnachtsfesten nicht eingeladen war. Sie schüttelte den Gedanken ab. Schließlich hatte sie jetzt selbst Familie, Haus und Schmuck, den sie zu Weihnachten in allen Zimmern verteilte. Das alte Weihnachtskostüm konnte gern auf dem Dachboden verrotten. Sie nahm die letzte Stufe und ging in das Schlafzimmer. Das Bett war ordentlich, niemand da. Sie ging weiter und schaute Zimmer für Zimmer durch, bis nur noch der Dachboden übrig war. Die Leiter war eine Weile nicht benutzt worden und etwas staubig. Aber auch dort war niemand. Nicht einmal die Katze. Verwundert klappte sie die Leiter wieder ein. Das leise Klingeln war deutlich zu hören. Sie verharrte regungslos im oberen Flur. Scheinbar kam es von unten. Wie sollte das gehen? War die Katze etwa mit all dem Kram die Treppe herunter gepurzelt? Nachdem sie noch einmal kräftig durchgeatmet hatte, nahm sie wieder die Stufen nach unten. Auf der Hälfte der Treppe schlug ihr ein allzu bekannter Duft entgegen. Mandelplätzchen. Das Rezept hatte ihre Oma an die Mutter gegeben und daraufhin gab es pünktlich zur Weihnachtszeit Mandelplätzchen. Das erneute Klingeln riss sie aus der Erinnerung. Wo kam das her? Sie ging ans Fenster, das zum Garten hinaus gerichtet war. Eigentlich hätte sie ihren Mann und ihre beiden Kinder erblicken müssen, über und über mit Schnee bedeckt und etwas nass vom Wälzen in ebendiesem. Aber dort war niemand. Verwundert rief sie nach ihnen. Keine Antwort. Dafür wieder dieses Klingeln. Ihre Füße trugen sie zum Wohnzimmer. Langsam öffnete sie die Tür. Da also waren ihre Kinder. Und ihr Mann. Sie blickte sich um und in sehr bekannte Gesichter. Beide Geschwis-ter standen dort mit einem breiten Lächeln. Gleich neben ihnen fand sie auch das liebevolle Gesicht ihrer Mutter – das erklärte den Duft nach Mandelplätzchen. Nach einer kurzen Umarmung für die drei ließ sie ihren Blick schweifen. Ihr Vater hatte es wohl nicht geschafft. Aber das sollte sie nicht stören, hatte sie doch ihre Geschwister, ihre Mutter und ihre eigene kleine Familie da. Sie tauschten sich aus, lachten und aßen Mandelplätzchen. Plötzlich klopfte es laut an der Tür. Sie vernahm einmal mehr das Klingeln. Nochmal klopfte es mit Nachdruck. Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet und ein großer Mann mit Rauschebart trat ein. Ehrfürchtig saßen die Kinder auf dem Boden. Sie konnte sich das Lächeln nicht verkneifen. So muss sie damals neben ihren Geschwistern gesessen haben, die genau wussten, wer da im Mantel steckte. Der Blick des Weihnachtsmannes traf sie und hinter dem dicken Bart – teils echt, teils künstlich – konnte sie das Lächeln ihres Vaters sehen. Alle Kinder und Enkelkinder bekamen Geschenke. Und Oma einen dicken Kuss. Da fragte eines der Kinder, ob der Opa das gut finden würde. Mit einem die Wände durchdringenden Lachen und dem leisen Klingen der Glöckchen war der Weihnachtsmann wieder verschwunden. Ihr Vater stieß kurz darauf hinzu. Leider hatte er den Geschenkebringer verpasst. Er umarmte seine Tochter und versprach, von nun an jedes Jahr der Weihnachtsmann zu sein, bis das letzte der Enkelkinder den Bart gelüftet hätte. Sophie Altkrüger