Die Geisel Doping und kein Ende. Die einstige Spitzenschwimmerin Ute Krieger-Krause aus Magdeburg berichtet, wie sie Opfer des DDR-Dopingsystems wurde. Von Rudi Bartlitz
„Ich wusste nicht mehr, was mit mir los ist.“ Es ist einer jener leisen Sätze, die Ute Krieger-Krause sagt, wenn sie über ihre Vergangenheit als Opfer des DDR-Dopingsystems spricht. Ein Satz, der auf den ersten Blick belanglos daherkommt. Doch er steht für einen jahrzehntelangen Kampf gegen die Folgen der Einnahme leistungsfördernder Mittel. Er steht für unsägliche Leiden, für psychische Störungen, für Depressionen. Und dahinter steht eine ganze Lebensgeschichte, die die heute 54-jährige einstige Spitzenschwimmerin des SC Magdeburg jetzt erstmals so ausführlich erzählt. Zumindest erstmals in ihrer Heimatstadt Magdeburg. Und dazu öffentlich. Aber warum nicht früher? „Ich hatte den Eindruck“, so die nüchterne Antwort, „dass das Interesse an einer Aufarbeitung der DDR-Dopingvergangenheit in Sachsen-Anhalt nicht besonders ausgeprägt ist.“
Ute Krieger-Krause gehört in der Bundesrepublik zu den 194 staatlich anerkannten Opfern des Staatsdopings in der DDR. Zusammen mit ihrem Mann Andreas Krieger – vor seiner Geschlechtsumwandlung als Heidi Krieger in den 80er Jahren eine sehr erfolgreiche DDR-Kugelstoßerin – setzt sie sich als Vorstandsmitglied des Dopingopfer-Hilfevereins dafür ein, begangenes Unrecht aufzuarbeiten, die Geschädigten nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und ihnen zumindest punktuell materiell zu helfen.
Alles, was die Geisel Doping so verwerflich macht, was sie insbesondere bei Kindern und Jugendlichen anzurichten vermag – Krieger-Krause hat es am eigenen Leib erfahren. Als sie 1973 auf die Kinder- und Jugendsportschule (KJS) Magdeburg kam, da schien die Welt noch in Ordnung. Die sportlichen Erfolge ließen bei der jungen Rückenschwimmerin nicht auf sich warten, und die von den Trainern verabreichten sogenannten Vitamintabletten nahm man eben hin. „Zumal ein Nachfragen stets sanktioniert wurde.“ Und was hätte eine Elfjährige auch schon fragen können … „Es war ein geschlossenes System. Selbst unseren Eltern gegenüber sollten wir nicht darüber reden.“
Der Druck zum Schweigen wurde noch größer, als später das berüchtigte Dopingmittel Oral-Turinabol, ein Testosteronpräparat, hinzukam. Die junge Frau ahnte damals noch nicht, was es mit den kleinen blauen Pillen auf sich hatte. 1977 geht ihr Traum in Erfüllung, sie wird in den Olympiakader berufen. Doch Utes Körper verändert sich plötzlich sichtbar. Die Muskeln wachsen, Schultern, Arme, Hals werden mächtiger. Vom Frühjahr bis Sommer nimmt sie fünfzehn Kilo zu. Ute wird ihr eigener Körper fremd.
„In jener Zeit begannen auch die psychischen Probleme und Depressionen“, berichtet sie. Schwimmen wurde immer mehr zur Last, wurde unerträglich. Ihr Innerstes streikte, im Kopf wurde sie dieser eintönigen Tortur im Becken müde. In Ute Krause regte sich Ablehnung, Widerstand. Was viele nicht wagten: Sie begehrte auf. Aber sie war eingespannt in die Medaillenfabrik DDR-Sport. „Ich empfand das wie ein Gefängnis. Ich wollte raus.“ Bis sie eines Tages im Trainingslager der Olympiakandidaten in Lindow alles hinwarf. „Aus Protest bin ich so lange quer durchs Becken geschwommen, bis sie mich rausgenommen haben. Meinem Trainer Joachim Vorpagel habe ich zugerufen: ‚Ich kann nicht mehr, ich gehe da nie mehr rein.‘“.
Sie ließ sich auch später nicht umstimmen, nicht durch gute Worte, nicht durch Druck. Krieger-Krause heute: „Ich habe alle Kontakte abgebrochen und wurde vom System regelrecht ausgestoßen.“ Sie fiel in ein tiefes Loch. Stichworte: Bulimie, psychische Störungen, Depressionen. Es folgte ein Klinikaufenthalt mit psychiatrischer Therapie. Ein Lehrerstudium brach sie nach zwei Jahren ab. Erst als sie eine Ausbildung zur Altenpflege aufnahm, traten erste Besserungen ein. „Als ich im Krankenhaus bestimmte Medikamente sah, kamen mir einige aus meiner Sportlaufbahn bekannt vor. In den Nachtdiensten begann ich, heimlich die entsprechenden Beipackzettel zu studieren. Da fing ich an, die Ursachen dafür zu ahnen, was mit mir in sehr jungen Jahren geschehen war, was in den Pillen wirklich war, wie ich missbraucht wurde.“
Doch der Eigenrecherche waren Mitte der achtziger Jahre enge Grenzen gesetzt: „Intensivere Nachforschungen wurden von der Oberschwes-ter, die auch noch Parteisekretär war, strikt unterbunden, an internationale Literatur kam ich erst recht nicht heran.“ Erst nach der Wende erfuhr sie die volle Wahrheit, erfuhr, dass in den blauen Tabletten, dem Oral-Turinabol, Stoffe enthalten waren, die Süchte provozieren, schwere psychischen Störungen hervorrufen und irreversible neuronale Schädigungen hinterlassen können. „Das war ein ausgeklügeltes Missbrauchssystem“, resümiert sie, „das nur ein Ziel hatte: Spitzenleistungen zu produzieren. Ja, zu produzieren.“
Weil sie nicht einfach hinnehmen wollte, was ihr und anderen angetan wurde, erstattete sie 1997 gegen ihren Trainer Joachim Vorpagel und die Ärztin Gudrun Meißner Anklage wegen Körperverletzung. Als 1999 der Dopingopfer-Hilfeverein gegründete wurde, engagierte sich Ute Krieger-Krause dort. Im Jahr 2000 trat sie als eine von 22 Nebenklägerinnen im Prozess gegen den allmächtigen DDR-Sportführer Manfred Ewald und den für die Durchführung des Dopingprogramms mitverantwortlichen Sportmediziner Manfred Höppner auf.
Nach über 25 Jahren, so scheint es, blickt die 54-Jährige, die als Folge der immer wieder auftretenden Depressionen mittlerweile eine Erwerbsminderungs-Rente bezieht, eher desillusioniert auf den Umgang mit DDR-Dopingopfern in der Bundesrepublik. Aus eigenem Erleben sagt sie: „Bis heute hat sich keiner der Trainer bei mir auch nur entschuldigt. Sie leugnen es einfach. Ich erwarte da auch nichts mehr.“ Selbst die 10.500 Euro, die sie einst als staatlich anerkanntes Dopingopfer erhalten habe, „helfen auch nicht für alle Zeit“. Viele der Betroffenen lebten heute von Arbeitslosenhilfe oder Erwerbsminderungsrente. Es müsse einfach anerkannt werden, fordert sie, dass „bleibende Schäden bleibender Hilfe bedürfen“. Was sie nicht sagt, aber meint: Hier könne nur eine reguläre Rente Abhilfe schaffen. Das im Sommer vom Bundestag beschlossene Zweite Dopingopfer-Hilfegesetz stelle daher nur „einen weiteren Schritt“ dar. Für die Betroffenen sei es jedoch „keine bleibende Unterstützung“.
Für Ute Krieger-Krause selbst gibt es nur ein Fazit: „Das Doping hat mein Leben geprägt und wird mich auch ständig weiter begleiten.“
Kompakt
Jüngste Zahlen der Forschung gehen davon aus, dass 10.000 bis 15.000 Athleten, darunter auch zahlreiche Kinder und Jugendliche, vom staatlichen DDR-Dopingsystem erfasst waren. Bei vielen Betroffenen treten die Spätfolgen erst heute zutage. Vom Ersten Dopingopfer-Hilfegesetz der Bundesrepublik mit einem Volumen von zwei Millionen Euro gingen Zahlungen an 194 sogenannte staatlich anerkannte Dopingopfer. Sie erhielten eine Einmalzahlung von etwa 10.500 Euro. Nachdem die Mittel schnell erschöpft waren, erließ der Bundestag im Juni 2016 ein zweites derartiges Gesetz mit diesmal 10,5 Millionen Euro Entschädigungsleistungen. Bis Juni 2017 können Betroffene und deren Kinder hier ihre Ansprüche geltend machen (eine Informationsveranstaltung dazu findet am 30. November im Magdeburger Rathaus statt). Der in Berlin ansässige unabhängige Dopingopfer-Hilfeverein, der derzeit bundesweit etwa 700 einstige Athleten betreut, beklagt seit Jahren die Untätigkeit des organisierten Sports, den Dopingopfern „ernstzunehmende Hilfe“ zu gewähren. Einstige Spitzenathleten seien nach dem Karriereende mit ihren „kaputten Körpern und Seelen allein gelassen“ worden.