Ich bin ein langsamer Leser, also einer, dem auch Unzeitgemäßes mitunter wichtig wird. Wann haben Sie, beispielsweise, zuletzt Strittmatter gelesen? „Der Günter Grass des Ostens“, las ich kürzlich auf einer Website. Sie sind ja beide ein wenig in Verruf geraten, ihrer Vergangenheit im Dritten Reich wegen, als hätten sie nicht ein jeder auf seine Weise und an seinem Platz ein turmhohes Werk geschaffen. Das Land Brandenburg verstieg sich sogar dazu, den Strittmatter-Preis umzubenennen. Das stößt einem doch moralinsauer auf.
Bei Strittmatter wird dann erschwerend aufgerechnet, dass er in der DDR, wie man an seinen Preisen sähe, doch auch staatsnah geschrieben habe. Er erzählt in seinem letzten Buch „Vor der Verwandlung“, wie er anlässlich seines 80. Geburtstages von Journalisten diesen Vorwurf auf rechthaberische Weise serviert bekam, mit der Frage, weshalb, wäre es denn anders gewesen, dass er nicht vor dem Ende der DDR derselben den Rücken gekehrt habe. Die Geschichte der Inquisition endet nicht mit derselben, sondern setzt sich fort, weil sie ein Machtmittel aus dem Arsenal der Sieger, damit der jeweils auf der richtigen Seite Stehenden ist. Sie entspringt der Arroganz der Macht, wie man ja auch vorher in der DDR bei der Partei- und Staatsführung sehen konnte. Nur setzt sich diese Arroganz eben fort.
Es scheint ein Geheimnis der Macht zu sein, dass sie die Seelen ihrer Inhaber frisst. Wir sehen das in diesen Tagen, wenn wir die Wahlplakate betrachten: Es gibt keine Visionen mehr. Ein Kopf, ein nichts sagender Slogan: Du willst Butter aufs Brot? Dann SPD. Du willst zur Butter auch Brot? Wähle CDU. Du willst Marmelade dazu? Dann die Linken. Willst Du nicht lieber vegetarische Marmelade? Dann die Grünen. Aber ohne Kreuzkümmel. Also AfD. Wir sind für alles. Also FDP. Aber wie komme ich dahin? Ich wollte doch von Strittmatter erzählen, dem Erwin, der sich in seinem letzten Buch Gedanken macht, ob er im dritten Band des „Ladens“ sprachlich noch genügt, noch ein sozusagen auf der Höhe der Zeit erzählender oder bereits im Erzählstil veralterter Schreiber sei. Jede Generation von Erzählern fragt sich das. Strittmatter kommt zu dem Schluss, dass ein Erzähler ja erzählen und nicht durch Sprachexperimente verwirren soll. Er hält sich daran, dem Eppes sei Dank, wie er nach seinem Wilhelminele im Buch den lieben Gott nennt (Wilhelminele meint, dass es „Eppes“ gibt, was die Welt zusammenhält), und streut immer wieder kleine, skurrile Geschichten in die Gedankenwelt des Autors ein. Strittmatter schreibt zur Wende, dass es hieße, „man habe uns einen heiligen Wunsch erfüllt,…, habe uns zu einem einig Volk von Brüdern gemacht, nachdem uns fremde Mächte jahrzehntelang trennten, schützten und auf unser Gutes aus waren.“ Nur wenig davon sei im letzten Band des „Ladens“ davon zu lesen gewesen. „Ich war stets mißtrauisch, wenn mir abverlangt wurde, die neuesten Regierungsverordnungen möchten, noch ehe man ihre Wirkung in der Praxis erlebt und ausgelotet hatte, positiv aus meinen Büchern herauszulesen sein. Und eben das wird, wie ich den Auslassungen beflissener Tageszeitungs-Kritiker entnehme, unter anderem Vorzeichen wieder verlangt.“
Und einen schönen Satz sagt er fast am Ende dieses kleinen Buches: „In der Kunst kommt es nicht darauf an, wie modisch, sondern wie kosmisch sie ist.“ Er stellt hier die Werke der Klassiker, die immer noch gelesen werden, den Werken der Klassiker-Kritiker, der Jungen, Ungestümen nach den Klassikern gegenüber, die heute weitgehend vergessen sind. Kunst ist dem entsprechend, was sich frisch hält. Der Berliner Gitarrist Uwe Kropinski sagte mir kürzlich am Telefon, er habe den Eindruck, dass in der heutigen Gesellschaft die Kunst, sofern sie nicht den Markt bedient, also, um mit Strittmatter zu sprechen, nicht „modisch“ ist, an sich ihre Bedeutung verliert und der Künstler sich eigentlich eher, gesellschaftlich gewünscht, als Sozialarbeiter zu verdingen habe, bei vielerlei Projekten mit sozial Benachteiligten, mit Flüchtlingen, mit Behinderten. Es sind durchaus ehrenwerte Aufgaben, aber sie zeigen zugleich an, dass die Kunst im bürgerlichen Alltag allenfalls noch Unterhaltungswert hat, also in leichten, in eher seichten, möglichst Event-Portionen Daseinsberechtigung erfährt. Oder eben aus politischen Gründen zur Stelle zu sein hat, wenn es gilt, Leute gegen bestimmte politische Strömungen zu mobilisieren. Auch das ein ehrenwertes Tun – aber auch sinnstiftend für die Kunst als solche?
Strittmatter beobachtet all dies, aber schweift immer wieder erzählerisch ab, indem er das Füllhorn seiner kleinen, herrlich skurrilen Geschichten über seine Reflektionen ausgießt und damit dem Buch eine erheiternde Leichtigkeit verleiht, die es wiederum auf wundersame Weise ermöglicht, auch die Meditationen über das künstlerische Schaffen anzunehmen.
Im September dieses Jahres wird in dem Ort in Sachsen-Anhalt, in dem er seine Bäckerlehre absolvierte, in Pretzsch bei Wittenberg, zum ersten Mal ein Strittmatter-Lesefest stattfinden.
Will sagen, nehmen Sie ruhig mal wieder die leicht verstaubten Strittmatter-Bände aus Ihrem Schrank in die Hände und beginnen Sie, die Romane oder Geschichten dieses wunderbaren Sprachformers wieder zu lesen.