Tendieren wir zunehmend zu einem Volk der Bewahrer und verlieren unter demografischen Trends die Fähigkeit für Veränderungen?
Von Thomas Wischnewski /
Ist unsere Gesellschaft beweglich und flexibel genug, um mit der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen der Welt Schritt zu halten? Besitzen die Deutschen überhaupt eine ausreichend innere Dynamik, um Veränderungen anzuschieben oder anzunehmen?
Wir messen Wandel gern mit statistischen Erhebungen, blicken jedoch selten tief genug auf den Grund der Dinge und vor allem viel zu ungern in den Spiegel. Und selbst wenn wir einen Spiegel vorgehalten bekommen, wollen wir uns darin nicht erkennen. Deutschland macht sich scheinbar auf den Weg, ein Volk der Bewahrer zu werden bzw. kommt aufgrund seiner Vorliebe fürs Festhalten an vertrauten Einstellungen und Werten von diesem Weg nicht ab. Was sind schlüssige Mechanismen und Indizien, die das Phänomen erklären können?
Wenn man Staat und Gesellschaft in Starre begreift, wenn man sehnsüchtig nach Veränderung rufen möchte, sind die Schuldigen am Dilemma schnell ausgemacht: Fast einmütig zeigen die Finger aus dem Volk auf die Politiker. Die Steuermänner des Gemeinwesens würden vorrangig reden und zu wenig bewegen. An allem Stillstand trage die staatstragende Politik – egal, ob regierend oder oppositionell – die Verantwortung. Für ein funktionierendes Regel-Fundament der Gemeinschaft, ausgleichende Balance, und größtmögliche Gerechtigkeit sind die gewählten Volksvertreter verantwortlich, genauso wie sie Motor und Initiatoren jeder Bewegung sein sollen. Offenbar sind die jedoch nur das Spiegelbild eines gesellschaftlichen Zustandes, den die große Mehrheit der Bürger selbst erzeugt.
Ein Blick auf die deutsche Bevölkerungspyramide zeigt deutlich, dass ab dem Jahrgang 1975 und für danach Geborene eine kontinuierliche Verjüngung des Diagramms beginnt. Zeigen die älteren Jahrgänge ab 1972 regelmäßig noch über eine Millionen Angehörige, nimmt die Zahl zu den jüngeren Deutschen immer weiter ab. Im vergangenen Jahr wurden gerade noch 688.000 Geburten registriert. Dem statistisch geburtenreichsten Jahr 1964 gehören heute fast 1,5 Millionen Menschen an. Was sagt uns diese Altersverteilung?
Menschen in der Mitte des 40. Lebensjahrzehnts haben sich weitgehend eingerichtet. Oft ist eine Familie gegründet, ein gewisser Sozialstatus ist erreicht, die berufliche Karriere hat Schwung aufgenommen und vielfach wurde ein Eigenheim gebaut und ganz viele persönliche Gegenstände des Alltags sind angeschafft. Man hat sich eingerichtet im Leben. Es geht darum, Freizeit und Urlaub zu genießen sowie die Kinder gut versorgt und möglichst bestens gebildet auf den eigenen Lebensweg zu schicken.
Jede einschneidende Veränderung in dieser Phase würde das Leben auf den Kopf stellen. So geht es aber nicht nur den noch jungen Erwachsenen, sondern auch den älteren Jahrgängen. Ab Mitte 30 beginnt die Solidität des Seins und das Wachsen der privaten Werte. Sorgen und Nöte drehen sich vielfach um ganz persönliche Befindlichkeiten. Unglück erlebt man häufig im Arbeitsumfeld und möglicherweise im sozialen Umfeld der Privatsphäre. Man hält sich selbst für neugierig und veränderungswillig. Mehrheitlich bezieht sich diese Ambivalenz jedoch auf die Entdeckerfähigkeit des individuellen Erlebens. Abenteuer und Herausforderungen will man am liebsten im Urlaub erleben, jedoch keine tiefgreifenden Einschnitte im eigenen Leben. Mit zunehmendem Alter – und das ist hinlänglich bekannt – nimmt die Veränderungsbereitschaft noch deutlicher ab.
In diesem Zusammenhang muss man sich vor Augen halten, dass die psychischen Einstellungs- und Wertebildungen in der Regel schon mit dem Verlassen des Teenageralters abgeschlossen sind. Es darf also festgestellt werden, dass sich die übergroße Mehrheit der Deutschen im Prozess des Bewahrens befindet. Von welcher Bevölkerungsgruppe könnten dann wichtige gesellschaftliche Änderungen eingefordert und umgesetzt werden?
Die Jugend besitzt das natürliche „revolutionäre“ Element. Die nachrückenden Generationen haben noch keinen Besitz angehäuft und können ergo auch wenig verlieren. Aufgrund ihrer ungestümen Energie und mangels Lebens- und Alltagserfahrung ist ihnen eine Dynamik wesenseigen, die das Leben ihrer Eltern- und Großelterngenerationen infrage stellt. Kann sich dieser unbedarfte Veränderungswille unter dem Druck einer wachsenden Bewahrerfront wirklich noch durchsetzen? Ein Blick in die Geschichte bedeutender gesellschaftlicher Umwälzungen bis hin zu Revolutionen beweist, dass diese Prozesse größtenteils von jungen Menschen getragen werden. Da diese Energie vor allem wegen der demografischen Entwicklung ausgebremst wird, kann vermutet werden, dass die innere Beweglichkeit des Gemeinwesens schwer nachlässt und wir uns eher in Richtung einer gesellschaftlichen Starre hin entwickeln.
Um das gesamte Ausmaß dieser Genese zu fassen, sollte man zusätzlich die heranwachsende Generation noch deutlicher unter die Lupe nehmen. Da wir zunehmend Ein-Kind-Haushalte – egal, ob in Ehen oder bei Alleinerziehenden – verzeichnen, darf grundsätzlich behauptet werden, dass diese Nachwuchsgeneration noch stärker von den Vorbildern der Eltern geprägt wird. Der elterliche Anspruch, den eigenen Kindern einen möglichst unbeschwerten Lebensweg zu ermöglichen, mag als hinreichender Verdacht gelten, dass Leistungs- und Risikobereitschaft weiter zurückgedrängt werden. Außerdem stehen Jugendliche sicher unter einem höheren Druck, den Erwartungen der Eltern gerecht zu werden. Innerhalb vielköpfiger Familien wird sich so eine Tendenz relativieren, weil man drei oder vier Kindern eben nicht so viel Aufmerksamkeit schenken kann wie einem Einzelkind.
Außerdem liebäugelt diese junge Generation ganz sicher auch schon mit dem Erbe der Eltern und Großeltern. Das Besitzkonstrukt der Erzeuger wird mit Sicherheit weniger angezweifelt. Mögen sie in der Pubertät die Lebensweise der Eltern noch als spießig abqualifizieren, löst sich die Kritik mit Beginn des beruflichen Werdegangs schnell auf. Desweiteren kann man guten Gewissens behaupten, dass es in der zahlenmäßig großen Mitte der Gesellschaft Jugendliche und junge Erwachsene gibt, die in Deutschland noch nie so viel persönlichen Besitz mit ins Leben brachten wie ein oder zwei Generationen vor ihnen, geschweige dennoch noch ältere Jahrgänge.
Handys, Computer, Autos, Wohnungseinrichtungen und Haushaltsgegenstände stehen oft schon mit Verlassen der Schule oder spätestens am Ende der Leere bereit. Und dann blickt eine verharrende Altgemeinschaft auf eben diesen jungen Bodensatz und erwartet von dorther Bewegung und Initiative.
Natürlich verzeichnen wir gesellschaftliche Bewegungen. Allerdings zeigen sich diese verstärkt am Rand. Innerhalb der mittellosen, sozial schwachen Bevölkerungsgruppen kanalisiert sich der Unmut über Verteilungsungerechtigkeit in linke und rechte Ideen. Jene, die sich längst abgehängt fühlen, stehen allerdings ebenfalls dieser Übermacht an materiell relativ sichergestellten Bewahrern gegenüber. Es ist anzunehmen, dass die Pole der Lager weiter auseinanderdriften, ohne dass sie insgesamt an Zulauf gewinnen. Im Prinzip kann man aus den Entwicklungen der letzten Jahre schlussfolgern, dass neue Trends zwar eine anfänglich große Dynamik zeigten, aber die Vertreter dieser Strömungen in kurzer Zeit paralysiert waren. Das Potenzial an möglichen Mitstreitern scheint schnell ausgeschöpft. Hier soll nicht über den gesellschaftspolitischen Wert entsprechender Forderungen aus irgendwelchen Lagern geurteilt werden, sondern nur das Abschleifen jeder aufkeimenden Bewegung aufgezeigt werden. Egal, ob es Piraten, AfD oder Pegida waren, alle Erscheinungen verloren nach kurzer Zeit die Kraft, wurden im Mehrheitstaumel assimiliert. Für maßgebliche Änderungen scheint jede aufkeimende Welle nur wie ein leichtes Gewässerplätschern.
Ein Sturm der Entrüstung stellt sich gemeinhin auch nicht ein, obwohl sicher ist, dass die heute konstruierten Sozialsysteme in Zukunft keinen Bestand haben können. Jede Forderung nach mehr Beteiligung an den Sicherungssystemen durch bisher befreite Bevölkerungsteile wie Selbstständigen, Beamten oder Besserverdienenden verhallt im Nirwana der Reglosigkeit.
Umfrageergebnisse der letzten Monate beweisen immer wieder, dass die Mehrheit der Deutschen grundsätzlich an der Konstitution ihrer politischen Führung gar nicht rütteln wollen. Dies kann hinlänglich als Erklärung für eine ausreichende Zufriedenheit bzw. eben für die Sehnsucht nach Bewahrung des vorhandenen Zustandes ausreichen.
Nach all der zuvor geschilderten Entwicklung fällt die Prognose nicht schwer, dass sich dieser Bewahrertrend noch verschärfen wird bzw. die Veränderungsverhinderungsbereitschaft weiter zunimmt. Diese psycho-soziale Verfassung unserer Gesellschaft wirkt indes nicht nur nach innen, sondern ebenso nach außen. Möglicherweise ist unsere Handlungsohnmacht gegenüber allem unruhigen Weltgeschehen ein wenig aus diesen inneren Prozessen heraus zu sehen.
Es liegt in der Logik dieser Überlegungen, dass den Deutschen die Fähigkeit zu grundlegenden Veränderungen künftig weiter abhandenkommen kann. Jeder mag zwar aus seiner Sicht Kritik an der gesellschaftspolitischen Verfassung artikulieren. Doch ändern sollten stets die anderen etwas. Sobald auch nur ein Hauch eines Einschnittes in die eigenen Lebensumstände spürbar wird, regt sich demonstrativer Widerstand. Die geringe Beteiligung an Wahlen ist sicher weniger ein Protestverhalten, sondern vielmehr ein Ausdruck für Ratlosigkeit. Innerhalb der politischen Interessengruppen sind nämlich mehrheitlich die Repräsentanten dieser Bewahrertendenzen zu finden. Deshalb ändern Wahlen wenig bzw. ist innerhalb demokratischer Möglichkeiten kein Sturm zu erwarten. Die Verantwortung kann angesichts dieser fortschreitenden Entwicklung für schwindende Veränderungsbereitschaft nicht vorrangig der Politik aufgebürdet werden. Dort ist eben nur ein sehr deutlicher Spiegel der Volksverfassung zu sehen.