Folgen von Unmündigkeit

thomas_editorialRepräsentative Gängelung oder Volksentscheid?

Man kann über alles nachdenken, heißt es gemeinhin. Nur sollten am Ende eines Denkprozesses auch stets Handlungsschlüsse stehen, die angemessene Entwicklungen und Lösungen ermöglichen. Im Anschluss an die EU-Austrittsentscheidungen der Briten war hierzulande öfter die Frage zu hören, ob man eine derart komplexe und schwerwiegende Abstimmung dem Volk überlassen dürfe. Manche Überlegung mündete in den Schluss: Gottseidank hätten wir eine repräsentative Demokratie und die gewählten Parlamentarier würden aufgrund ihrer Funktion und Berufung die vielen Aspekte so eines Unterfangens umfassend studieren, abwiegen und zum Wohle ihrer Bürger entscheiden. Man muss jedoch den Umkehrschluss dieser Argumentation ins Kalkül ziehen. Es wird damit subtil unterstellt, dass die Gesamtheit der deutschen Bürger – oder zumindest ein überwiegender Teil des Volkes – nicht in der Lage sei einen angemessenen Willen für sich selbst zu artikulieren. Natürlich kann nicht jeder, alles wissen und alles überblicken. Ob jedoch 630 Abgeordnete des Bundestages wirklich in jeder Situation den Willen von rund 62 Millionen wahlberechtigten Deutschen abbilden können, ist ebenso eine vage Vermutung. Es bleibt der Eindruck, als schwebte über der deutschen repräsentativen Demokratie noch immer der Fluch einer über 83 Jahre zurückliegenden Wahl, die eine Schreckensherrschaft mit katastrophalen Folgen für die Menschheit hervorbrachte. Offensichtlich darf das Volk aus dieser historischen Ableitung heraus nicht über wichtige Schicksalsfragen entscheiden. Leider wächst in der Fortdauer eines solchen Verständnisses gerade das Misstrauen gegenüber einer politischen Elite, die fortwährend auf die eigene Entscheidungskompetenz pocht und damit den Eindruck nährt, dass Bürger sich immer wieder als unmündig empfinden müssen. Dass hier ein fruchtbarer Boden für radikale, demokratiefeindliche Propaganda gedünkt wird, will den staatstragenden Parteien offenbar nicht aufgehen. Politiker fordern stets ein Mehr an demokratischer Beteiligung auf kommunaler Ebene ein und vergessen im selben Atemzug, dass genau jene angesprochenen Menschen jede höhere Entscheidung auf Bundes- und EU-Ebene schlucken sollen. Wenn eine interaktive Entwicklung in der Meinungsbildung weiterhin starr verhindert wird, muss man sich über ein wachsendes Empfinden über politische Gängelung nicht wundern. In der Verfassung, Artikel 20, Absatz 2 steht der Grundsatz „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung … ausgeübt“. Wichtig ist das „und“ zwischen „Abstimmung“ und „Organe der Gesetzgebung“. Da steht eben nicht „nur das Parlament“. Wenn Bürger merken, dass ihnen politisch nicht vertraut wird, verlieren sie ebenfalls das Vertrauen in die Politik.
Thomas Wischnewski

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