Jeder, der erkrankt, erwartet umgehend Hilfe. Außerhalb eines Notfalls mahlen die Mühlen des Gesundheitsystems oft nicht so schnell. Das liegt aber nicht nur am System.
Die beste Krankheit taugt nichts. Die alte Volksweisheit drückt treffend aus, mit welchem Verständis man auf physische oder psychische Beeinträchtigungen schaut. Wer krank ist, sucht medizinische Hilfe, erwartet schnelle Diagnostik und im besten Fall eine Therapie im Handumdrehen. Allerdings fällt man bereits am Anfang über die ersten Stolpersteine im medizinischen System. Die ein persönliches Elend verlängernden Wartezeiten beim Hausarzt sind häufig nur der Anfang einer sich hinziehenden Tortur. Wer dann mit einer Überweisung zum Facharzt geschickt wird, freut sich bei vielen medizinischen Spezialisten schon darüber, wenn man innerhalb der nächsten Wochen vorstellig werden darf.
Das große Wort über den Ausdruck an Unzufriedenheit mit der medizinischen Versorgung heißt dann „Ärztemangel“. In ländlichen Regionen droht das Szenario tatsächlich. In der Stadt kann davon eigentlich keine Rede sein. Im gesamten Land steigt der Anteil an Beschäftigten im medizinischen Sektor gegenüber einer sinkenden Gesamtbevölkerung (2008: 13,1%; 2015 14,2%). Auch der Anteil am Bruttosozialprodukt steigt stetig. Betrug die Bruttowertschöpfung je Erwerbstätigen 2008 noch 34.313 Euro lag sie 2015 bei 42.825 Euro. Man kann einerseits gestiegene Therapiekosten als Grund für zunehmende Wertschöpfung sehen, andererseits die Verbreitung neuer diagnostischer Methoden benennen, darf den älter werdenden Anteil der Bevölkerung mit einem höheren Potenzial an multimorbiden Erscheinungen nicht vergessen und muss auf jeden Fall die sich ständig ändernden Grenzwerte in der Medizin benennen. Beispielsweise galt 1980 als Diabetiker, wer einen Nüchtern-Blutzucker von 144 Milligramm pro Deziliter Blut aufwies. Fünf Jahre später setzte die WHO die Grenze zur Zuckerkrankheit bei 140 mg an. Heute gilt bereits als Prä-Diabetiker, wenn der Blutzuckerwert 90 mg/dl überschreitet. Ähnliche Grenzwertsetzung nach unten gibt es bei Bluthochdruck oder Cholesterinwerten. Diesem Trend kann man den Effekt unterstellen, automatisch eine Pathalogisierung immer größerer Bevölkerungskreise voranzutrieben und gleichzeitig Kosten und Versorgungsangebote anzukurbeln. Dass unter einer Entwicklung ein aus engen Vorschriften (Diagnoseschlüssel, Theapievorschriften, Zuständigkeitsgrenzen etc.) organisiertes System kaum auf die individuelle Erwartung eines Patienten passt, liegt wohl auf der Hand.
Einhergehend mit zahlreichen medizinischen Errungenschaften ist mit Sicherheit heute die Vorstellung gewachsen, ein Arztbesuch ähnelte dem Aufenthalt eines Pkws in einer Autowerkstatt und eine therapeutische Maßnahme käme einer Reperatur gleich. Natürlich ist die Gesundheit als Grundlage eines zufriedenen Lebens unser wichtigstes Gut. Offenbar verlässt man sich jedoch auf die Funktionalität des Systems in einer Weise, als würde es jeder Patientenerwartung gerecht werden können.
Während einerseits physische Grenzwerte oder auch neue psychologische Beeinträchtigungen dafür sorgen, dass man schneller als krank eingestuft wird, wird die Versorgungsdichte niedergelassener Ärzte an der Einwohnerzahl festgemacht. Dieser Maßstab kann natürlich kein Gleichgewicht zwischen tatsächlichen Behandlungsfällen und Gesamtbevölkerung herstellen. So aufgeklärt Patienten heute durchs Belesen im Internet einen Arzt aufsuchen, so irreführend kann die Information sein. Im schlimmsten Fall könnte die Überzeugung, mehr als der Mediziner zu wissen, dazu führen, dass man einen Arzt auf die falsche Spur bringt, weil notwenige Informationen über eigene Symptome ausgeblendet wurden. Erfreulich ist, dass bei möglichen Defiziten und Fehlern im Gesundheitssystem, die von der Krankenkasse ausgestellte Scheckkarte immer gedeckt ist und einen Zugang zu modernsten Behandlungsmethoden ermöglicht.
Thomas Wischnewski