Schulmedizin oder Heilpraktik? – Eine Reflexion über die persönliche Erfahrung.
Von Ludwig Schumann
Nicht einmal die Ärzte sind sich einig. Immerhin etwa 7000 Ärzte bieten in Deutschland neben der Schulmedizin auch homöopathische Behandlungen an. Kollegen, die das nicht tun, ziehen heftig gegen solcherart „unwissenschaftliche“ Behandlungen zu Felde. Die Geister scheiden sich an der Frage der wissenschaftlichen Nachweisbarkeit der Wirksamkeit homöopathischer Behandlungsmethoden. Der Paderborner HNO-Arzt Wolfgang Vahle bringt es im „Spiegel“ solcherart auf den Punkt: „Wenn Sie Schnupfen haben und sich jeden Tag ein rohes Ei auf den Kopf schlagen, werden Sie nach zwei Wochen wahrscheinlich gesund sein. Das liegt aber nicht an den Eiern.“
Entwickelt hat die Homöopathie vor 200 Jahren ein Arzt, Dr. Samuel Hahnemann. Sein Leitsatz: „Similia similibus currentur.“, „Ähnliches wird durch Ähnliches geheilt.“ Hahnemann, der oft seinen Wohnort wechseln musste, fand im anhaltischen Köthen den Ort, an dem er die längste Zeit seines Lebens wirkte, bevor er in Liebe zu einer wesentlich jüngeren Französin fiel und mit ihr nach Paris zog. Der Kasseler Arzt Dr. Karl Wilhelm Steuernagel, zugleich Past-Präsident des Deutschen Zentralvereins homöopathischer Ärzte, des ältesten, 1829 in Köthen gegründeten, Ärztevereins setzte sich in den neunziger Jahren dafür ein, dass Köthen sozusagen zur „Homöopathie-Welthauptstadt“ wurde. Das Köthener Hahnemann-Haus wurde restauriert, das historische Gemäuer des ehemaligen Spitals der Barmherzigen Brüder beinhaltet nun die Europäische Bibliothek für Homöopathie. Heilpraktiker aus Mexiko, Indien und von anderswo pilgern heutzutage nach Köthen, um einmal im Hause Hahnemanns gewesen zu sein. Die Scharlatane, scheint es, sind weltweit gut vernetzt. Dem naturwissenschaftlich gebildeten Menschen ist das ein Gräuel, dem in der DDR aufgewachsenen säkular gebildeten erst recht.
Mein Vater, so erlebte ich das in den fünfziger und sechziger Jahren, als es in der DDR noch eine Reihe Heilpraktiker gab, ging des öfteren, neben seinen Arztbesuchen beim Schulmediziner, zum Heilpraktiker. Beruf und Mensch hatten bei uns zu Hause keine negative Konnotation. Was mich freilich nicht davor bewahrte, diesem Berufsstand mit einer gewissen Skepsis zu begegnen. Natürlich ging ich mit meinen Wehwehchen zum Schulmediziner. Wobei mich je länger je mehr störte, dass gesundheitliche Störungen sozusagen konkret diagnostiziert und dann einer Behandlung unterworfen wurden, aber kaum ein Schulmediziner die Ursachen der Störung suchte. Vor nunmehr fast zwanzig Jahren nahmen meine Rückenschmerzen ein unerträgliches Ausmaß an. Ich brauchte eine Schubkarre nur anzufassen, schon wanderte ich nachts umher, weil ich vor Schmerzen nicht schlafen konnte. Orthopäde oder Osteopath war da die Frage.
Den Osteopathen kannte ich. Osteopathen haben den Anspruch, ganzheitlich zu heilen. Sie behandeln mit den Händen, ertasten die Funktionsstörungen im Körper. Sie gehen davon aus, dass Bewegungsapparat, Schädel, Rückenmark, Organe innerhalb von Systemen funktionieren und also zusammenhängen. Vier Massagen, sagte er mir, werden reichen. Du wirst dann etwa 2 Zentimeter größer sein und die Wirbelsäule ist entlastet. In fünf Jahren werden wir das wiederholen müssen. Er hatte recht: Meine auf 1,70 Meter zusammengepresste Körpergröße dehnte sich wieder auf 1,72 Meter. Unrecht hatte er mit der Zeitdauer bis zur Wiederholung. Es ist heute noch, also mehr als 15 Jahre nach der Behandlung, noch keine neue nötig gewesen. Seit etlichen Jahren litt ich auch an Diabetes II. Es kam die Zeit, da stiegen die Werte so, dass meine Hausärztin sagte, dass ich ab sofort spritzen müsse. Nun, dachte ich, frage ich doch mal den Osteopathen. Nein, ich rechnete nicht damit, dass er dabei helfen könne. Knochen ja. Aber das war etwas Inneres. Zu meiner Überraschung sagte er zu, mit der Einschränkung: Nur wenn die Bauchspeicheldrüse noch arbeitet, kann ich sie aktivieren. Durch Massage. Es klappte. Zwei Massagen später hatte ich Normalwerte. Er untersagte mir. die Medikamente nun abzusetzen: Erst, wenn die Werte kontinuierlich zwei Jahre gleich blieben, könne ich bei meiner Ärztin mal nachfragen, ob ich die Medikamente auch absetzen dürfe. Das war nicht mehr nötig. Nach zwei Jahren setzten im Krankenhaus die Ärzte die Diabetes-Medikamente ab, weil die Werte gleichbleibend niedrig waren. Ehrlich gesagt, habe ich mich über mein Nichtzutrauen geärgert. Hätte ich ihn Jahre eher gefragt, wären mir etliche gesundheitliche Schäden erspart geblieben – und was hätte ich der Krankenkasse an Finanzen sparen helfen können!
Will sagen, so einfach ist die Rechnung nicht: Hier Schulmedizin und gut, da Heilpraktiker und das Grauen. Das hängt auch damit zusammen, dass der Mensch nun mal mehr darstellt, als er zu sein scheint und das Leben mehr ist, als nur, was man sehen, kontrollieren, gewichten kann. Statt Scheuklappen wünschte ich mir ein Gespräch zwischen den Berufsgruppen mit den verschiedenen Zugängen zum menschlichen Leben, um dieses Lebens willen! Und, ja, auch, um des Stopps der Ressourcenvergeudung willen, die wir aus ideologischen Gründen so bereitwillig auf uns nehmen. Schulmedizin und Naturwissenschaftliche Forschung sind wunderbare Werkzeuge, wenn sie Werkzeug bleiben und nicht zur ideologischen Keule hochgerüstet werden. Deutschland verblödet nur dann, wenn der menschliche Geist auf die Erkenntnis allein aus Naturwissenschaft zusammengepfercht wird. Wer auf dem Feld nur die Nutzpflanzen als berechtigt wachsend sieht, dem entgeht, dass auf den bunten, von Wildblumen durchsetzten Feldern nicht nur die Ästhetik Jubelfeste feiert, sondern ganz praktisch viele Lebewesen ihr Auskommen finden und damit ein unendlich reicheres Leben ermöglichen. Diversität ist eine Begleiterscheinung des Mühens um Konsens.