Neulich fuhr ich mit dem Taxi übers flache Land. Es war eine längere Tour, wir kamen ins Gespräch. Den Fahrer bewegte, dass jetzt so viele Menschen im Land wären, die eine ganz andere Kultur hätten als wir. Auf meine Frage, wie viel dieser Menschen ihm begegnet wären, wehrte er ab. Nein, keiner. Aber man kann sich das doch vorstellen, dass das nicht passt. Und wie solle sich einer integrieren, der eine andere Kultur habe? Nein, das war nicht die auch schon gehörte Fremdenfeindlichkeit. Ich erzählte ihm von Freunden, die vor zwanzig Jahren nach Deutschland kamen. Ich sah die Bilder ihrer Ankunft aus dem Irak. Das waren zwei nach europäischer Mode gekleidete adrette junge Leute, er ehemals Schuldirektor und Sportlehrer, sie Grundschullehrerin. Wenn ich sie heute besuche, kleidet sie sich traditionell, mit Kopftuch. Fand sie in der Fremde zu ihren Wurzeln? Nein, aber der gesuchte Kontakt zu Deutschen wurde nicht erwidert. Eine Stelle als Lehrerin kam auch nicht in Frage, für beide nicht. Der Sportlehrer aus dem Irak hatte keine Chance, in Deutschland Sportunterricht zu geben. Um nicht einfach herumzusitzen, arbeitet er in einem Döner-Imbiss. Und die Frau passte sich der Gemeinde ihrer Landsleute an, um überhaupt Kontakt zu Menschen hier im Lande zu finden. Ihr Mann als ehemaliger Peschmerga-Kommandeur, was hätte er neben dem Sportunterricht alles seinen Schülerinnen und Schülern über Kultur und Geschichte aus dem Land erzählen können, in dem doch immerhin die Wurzeln unserer Kultur liegen. Der Taxifahrer schwieg. „Ja“, sagte er dann, „so geht es auch nicht.“ Sicher hat er auf dieser Fahrt nicht seine Bedenken gegen die Ausländer verloren, aber ein bisschen Nachdenklichkeit stand ihm schon im Gesicht. Eine solche Geschichte hatte er nicht erwartet. Und es war keine geschäftsmäßige Freundlichkeit, mit der er mich verabschiedete.
Es werden zu wenig Geschichten erzählt, und wenn, dann zu oft die falschen. Die vom Kölner Silvester zum Beispiel. Ich habe auf die nämliche Entrüstung gewartet, als zum Münchener Oktoberfest gleich am ersten Tag junge bayrische trunkene Männer eine junge Frau nicht nur begrapschten, sondern ihr öffentlich den Schlüpfer herunterzogen. Sie bloß stellten. Es war eine Pressemeldung wert. Mehr nicht. Vielleicht, weil in München ein gestandenes Mannsbild das so macht. Kommt ja immer wieder vor. Gehört zur Wiesn. Ich bin jetzt mal gespannt, was die nordafrikanischen Staaten mit den jungen Bayern machen, wenn die dann in ein sicheres Herkunftsland abgeschoben werden. Ach nein, die müsste ja der Seehofer aufnehmen. Und da sind sie ja eh schon. Gut, das war nix.
Navid Kermani, deutscher Schriftsteller iranischer Herkunft, von den eher Linken in Deutschland sogar für präsidiabel gehalten, reißt derzeit für den „Spiegel“ gen Osten. Die Reise begann im Schweriner Plattenbauviertel „Dreesch“ mit einem Besuch einer AfD-Versammlung. Ein junger Mann dort sagt ihm: „Wir wollen, dass alles so bleibt.“ Einer, wie Kermani schreibt, der genauso freundlich, neugierig ist wie alle anderen auf dieser Versammlung. Offensichtlich empfindet er Kermani trotz seines anderen Aussehens nicht als Bedrohung. Es sei nicht Hass, schreibt Kermani, sondern Furcht, welche die Anhänger der AfD zusammenführt, die Furcht, zu den Verlierern der Gesellschaft zu gehören. Da zählen sich die in gleicher Weise dazu, die kein Auskommen mit ihrem Einkommen haben, und auch die, die sich bei ihrer beruflichen Karriere oder ihren Lebensthemen, die politisch keine Beachtung fanden, zurückgesetzt fühlen. Die Furcht schickt sie zur Hoffnungspartei, die verwegen im braunen Brei rührt, das freilich immer wieder zurücknehmend, aber geduldig mit immer neuem verbalem Vorpreschen das geistige Umland dafür bereitet. Die Furcht. Was zu gut deutsch heißt, die gegenwärtige Politik konnte diesen Menschen die Furcht nicht nehmen. Furcht empfinden Menschen zunächst, wenn sie nicht wissen, was auf sie zukommt. Damit einher geht, dass sie nichts mehr oder niemanden mehr haben, in das oder den sie Vertrauen investieren würden.
Heißt das für die gängige Politik nicht: Hallo, wir haben keine gemeinsame Sprache mehr? Und hätte schon mal jemand festgestellt, dass seit den AfD-Wahlergebnissen die demokratischen Parteien sich wirklich und wahrhaftig um eine neue Sprache bemüht hätten? Ein Innenminister, der nicht müde wird zu erklären, dass man der Öffentlichkeit nicht alle Wahrheit zumuten kann, beunruhigt sein Publikum in der Tat aufs Äußerste, weil niemandem klar ist, was er denn noch weiß, was man selber aufgrund seiner Informationspolitik nicht wissen kann. Furcht erzeugen ist ein ganz schlechtes Mittel. Lügen aus diesem Grunde verbreiten, ist ein noch viel schlechteres Mittel zur Beruhigung. Offenheit, das Gespräch wieder mit dem Souverän suchen, dort vor allem zuhören können und nicht besserwisserisch übers Maul fahren, wie unsere Landwirtschafts- und Umweltministerin auf dem Storchenhof in Loburg Windradkritikern sofort, ohne wirklich auf deren Argumente zu hören, kontert, dass wesentlich mehr Milane durch Autos überfahren als durch Windräder geschreddert würden. Abgesehen davon, dass die Aussage nicht belegt ist, war es das völlig falsche Argument für die Windkraftgegner dieser Region, deren Befürchtungen ja sogar durch die Ablehnung des Landratsamtes Jerichower Land nach Prüfung aller Unterlagen gehört wurden und zur Ablehnung beitrugen. Wie man den parteiübergreifenden einstimmigen Entschluss des Stadtrates von Möckern ignoriert und ein windarmes Gebiet, trotz Großtrappendurchzug, trotz Milanbesatz, trotzdem es Auswilderungsgebiet für den Storchenhof ist, regionalplanmäßig wieder den Windkraftvorzugsgebieten zuordnet. Und das, obwohl Möckern festgestellt hat, dass es in der Lieferung von Windkraftenergie bereits jetzt weit über dem Soll liegt. Solche Ignoranz, das Gar-Nicht-Mehr-Zuhören-Können grenzt auch den politisch interessierten Menschen aus. Furcht entsteht auch aus der Erfahrung, mit den eigenen Anliegen nicht mehr wahrgenommen zu werden.
Meine Großeltern erzählten von der Furcht der Endzwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, als jede wirtschaftliche Perspektive wegbrach. Die Furcht der Menschen ließ sie die Propheten der Wende wählen, die dann die Vollzugsbeamten des Untergangs wurden.
Auch 1989 war ein Jahr der Furcht, die sich mit Beginn der achtziger Jahre zu steigern begann, weil die Vielen, die nicht mehr einverstanden waren, nicht gehört wurden. Was heute immer als der große Traum der Freiheit mit dem entsprechenden Mut zur Umsetzung ideologisch großartig gefeiert wird, hatte seine Ursache in der Angst der Vielen, in diesem Leben zu kurz zu kommen. Der Traum der Freiheit hatte sich doch bereits in seinen Anfängen in der Furcht aufgehoben, in diesem Leben nicht mehr nach Haiti fliegen zu können, nicht wie selbstverständlich Südfrüchte essen, Wohlstand anhäufen zu können. Ja, sicher ging es einigen auch darum, die Grenzen einer zu engen Gesellschaft zu sprengen. Aber das war die Minderheit, die ohne die große Zahl der Ausreisewilligen und schließlich auch unter dem Aspekt, ein Volk zu werden, Mitdemonstrierer wohl kaum den 9. Oktober 1989 hätte herbeiführen können, der dann in den 9. November mündete. Es war die Angst derer, die im Leben nicht zu kurz kommen wollten, die mitunter größer war als die Verantwortung der Eltern für ihre Kinder, die entweder bei Fluchtversuchen, trotzdem man um deren Gefährlichkeit wusste, mitgenommen wurden oder die, während man mit dem Wissen einer möglichen Verhaftung und Abschiebung die Berliner Ständige Vertretung besuchte, den Heimen des Landes, in ganz problematischen Fällen der Zwangsadoption überließ. War es das wirklich wert? Und nun ist es wieder eine Furcht, die das politische Gefüge der Demokratie droht zu sprengen. Die Furcht der zwanziger Jahre führte in eine geschlossene Gesellschaft. Die Furcht der achtziger Jahre immerhin in eine offene Gesellschaft. Die Furcht der zehner Jahre kann, wenn wir nicht Obacht geben, wieder in einer geschlossenen Gesellschaft landen. Da mögen sich die Damen und Herren der besagten Partei mit noch so viel Nebelbomben bewaffnen. Wer über „völkisch“ als wieder in den Sprachgebrauch rückzuführendes Wort nachdenkt, natürlich neu interpretiert, wer die Menschen sozial beruhigen will, aber zugleich ein neoliberalistisches Parteiprogramm aufsetzt, wer anlässlich eines Attentats wie in München twittert: „Danke, Frau Merkel“ (wie Herr Poggenburg), der sollte die Menschen in Furcht versetzen, statt auf sie so ein seltenes Gut wie Hoffnung zu verschwenden. Denken Sie mal darüber nach.
Alle Lebenserfahrung sagt: Es bleibt sowieso nicht alles, wie es ist. Dann kann man doch, wenn man sich die Lebensfreude bewahren will, das Neue auch mit offenen Armen empfangen. Und die Neuen gleich mit, meint Ihr langsamer Leser. Ludwig Schumann