In Krisenzeiten aufgefangen werden

031116pg_frodl3Prof. Dr. Thomas Frodl über das unterschätzte Leiden Depression.

Herr Prof. Dr. Frodl, wann spricht man von einer pathologischen Form der Depression? Prof. Dr. Thomas Frodl: eine Depression ist zunächst eine Erkrankung, die deutlich über das Maß einer schlechten Stimmung hinausgeht und mindestens länger als 14 Tage anhält. Sie geht einher mit Freudlosigkeit, Niedergeschlagenheit, Interessensverlust und zusätzlichen Symptomen wie Schlafstörungen und Appetitmangel, Konzentrationsproblemen, ständiges Grübeln und sich Sorgen um die Zukunft machen. Selbstwertgefühle knicken ein und Schuldgefühle treten stark hervor. Damit verbunden sind häufig Suizidgedanken.

Existiert eine genetisch bedingte Präferenz, dass bestimmte Menschen eine Neigung für depressive Stimmungen mitbringen? Man weiß, dass z. B. bei Zwillingen die Wahrscheinlichkeit höher ist, wenn einer an einer Depression erkrankt, dass der andere auch daran erkranken kann. Eine genetische Komponente ist auf jeden Fall mit dabei. Allerdings hat man derzeit noch keine Gene oder eine Genkombination identifiziert, die für eine Depression maßgeblich sind.

Welche Aspekte der Persönlichkeitsentwicklungen können den Weg in eine Depression fördern? Ein wesentlicher Grund für das spätere Auftreten von Depressionen ist Vernachlässigung während der Kindheit, außerdem Missbrauchserlebnisse oder auch Erlebnisse, in einer nicht sicheren bzw. stabilen Umgebung aufzuwachsen. 50 Prozent unserer Patienten zeigen deutliche Auffälligkeiten, dass ihr Lebensweg sie wahrscheinlich deutlich beeinflusst hat.

In Untersuchungen über die Arbeitswelt werden vielfach Stress, hohe Anforderungen, Reizüberflutung oder Mobbing als Gründe für psychische Beeinträchtigungen angeführt. Wird der Arbeit hier nicht grundsätzlich ein zu negativer Stempel aufgedrückt? Arbeit an sich ist eine Aktivität, die eigentlich genau das Gegenteil bewirkt. Positive Aktivitäten wirken zum Beispiel antidepressiv. Das Gehirn reagiert in aktiven Phasen viel plastischer, aber es kommt natürlich darauf an, dass keine Mobbing-Situation oder eine Atmosphäre von Aversion vorhanden ist. Wer zu Depressionen neigt, würde dann eher diese Stimmung aufnehmen und könnte innere Schemata schneller aktivieren, die zu einem depressiven Affekt führen.

Ist derjenige, der in einen Teufelskreis negativer Bewertungen feststeckt, in Gefahr, physische Folgen davonzutragen? Ja solche Folgen findet man schon. In solchen Situationen werden Stresshormone aktiviert, was unter einer lang anhaltenden Dauer dazu führen kann, dass in der Regulation des Hormonhaushalts eine Störung auftreten kann.

Kann man selbst einen Weg aus einer Depression finden? Depressionen gehen als episodenhafte Erkrankung häufig auch wieder vorbei. Ohne Behandlung kann das mehrere Monate dauern, bis sie überwunden werden. Es kann natürlich auch zu einer Chronifizierung der Krankheit führen. Unsere Erfahrung ist, dass mit Therapie die Dauer der Phasen deutlich kürzer und weniger Phasen auftreten. Mit einem stützenden sozialen Umfeld kann man sicher aus einer leichten Depression herauskommen. Sport, überhaupt körperliche Aktivitäten und die Teilnahme am kulturellen Leben helfen ungemein. Bei ganz schweren Depressionen ist es in der Regel nicht mehr möglich.

Es gibt Vereinsamungstendenzen in unserer Gesellschaft. Die Zahl der Einpersonenhaushalte wächst. Sind das begünstigende Erscheinungen für zunehmend psychische Beeinträchtigungen? Das sind sicher ungünstige Voraussetzungen. Das soziale Netzwerk bröckelt darunter. Die Einbindung in die Gesellschaft ist ein wichtiger fördernder Faktor für das psychische Wohlbefinden.

Frühere Generationen waren es gewohnt, mit vielen Personen in einem Umfeld zusammen zu leben. Ich habe den Eindruck, dass sich unter einer fortschreitenden Tendenz zur Versingelung Vereinsamungsphänomene weiter dynamisieren. Kann dies negative Stimmungen fördern? Es kann schon so sein, dass weniger soziale Kontakte in der Familie weniger Schutz vor Depressionen bieten. Andererseits bot früher die starke Einbindung in eine Familie auch weniger Ausweichmöglichkeiten. Bei traumatisierenden Erlebnissen innerhalb eines Familienverbundes fand man selten einen Ausweg aus der Situation. Ältere Menschen kann es heute natürlich häufiger treffen, dass sie bei Verlust familiärer Kontakte oder wenn gar keine Kinder vorhanden sind in Krisensituationen niemanden finden, der sie auffängt. Gerade unter einer Depression entsteht oft auch ein sozialer Rückzug, der zum Abschneiden von Kontakten führt.

Prof. Dr. Thomas Frodl, Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie.

Prof. Dr. Thomas Frodl, Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie.

Man kann den Eindruck bekommen, dass Internet und Medienwelt mit einer Flut an negativen Nachrichten den Boden für ein negatives Stimmungsklima bereiten. Kann darin ein Indiz für zunehmend psychische Erkrankungen gesehen werden? Vielleicht schätzt man unter diesen medialen Verstärkern weniger die einfachen Dinge des Lebens, auf die es ankommt.

Oft hört man die Klage, dass die Anforderungen an einen Job enorm zugenommen hätten und dies einhergehend mit einer statistisch gesunkenen Jahresarbeitszeit. In den vergangenen 30 Jahren wurden bei Angestellten in Deutschland rund 600 Jahresarbeitsstunden abgebaut. Wie passt das mit angeblich zunehmenden psychischen Beeinträchtigungen zusammen? Ich glaube nicht, dass es heute anstrengender ist zu arbeiten. Festhalten muss man, dass psychische Erkrankungen früher kaum Beachtung fanden. Das Verständnis, dass jeder von so einer Beeinträchtigung betroffen sein kann, entsteht jetzt erst. Deshalb treten sie in den Statistiken überhaupt erst häufiger auf.

Stichwort Digitalisierung: An vielen Arbeitsplätzen ist der Computer das normale Arbeitsmittel. Zuhause surft dann mancher noch privat im Internet. Ist das nicht eine negative Dauerbelastung für die Psyche? Wer seine Freizeit zusätzlich an Bildschirmen verbringt, legt weniger Wert auf Entspannung und Erholungsphasen. Das kann das Belastungsempfinden negativ befeuern.

Können Kinder von Depressionen betroffen sein? Ja, Kinder können davon betroffen sein. Gründe sind ähnlich wie bei Erwachsenen, auch ein Zusammenspiel aus Veranlagungsfaktoren und der Kindheitsentwicklung.

Wissen, Erfahrungen und Diagnose sind in Psychologie und Psychiatrie präziser geworden. Führt das dazu, dass schneller eine Depression identifiziert wird? Sicher. Menschen kehren heute eher ihr emotionales Inneres heraus und vertrauen sich gegenüber Ärzten bzw. Therapeuten an. Die Nachkriegsgeneration hat über Gefühle kaum gesprochen. Und natürlich ist die Häufigkeit auch darauf zurückzuführen, dass das Netz ärztlicher und psychologischer Kompetenz enger geworden ist und damit statistisch mehr Fälle erfasst werden. Fragen: Thomas Wischnewski


130. MEDIZINISCHER SONNTAG: Prof. Dr. med. Thomas Frodl, Dipl.-Neurowiss. Dominik Albrecht – Das unterschätze Leiden: Vom Stress zur Depression

20. November 2016, 10.30 Uhr, Uni-Hörsaal 1, Gebäude 26 (Magdeburg, Pfälzer Straße)