Der Abstand der etablierten Parteien zur AfD schrumpft. Hat das Folgen für die Landespolitik? Welche Koalitionen könnten sich ergeben und mit welchen Konsequenzen müsste das Wissenschaftssystem rechnen? Über Stimmungen und ob eine Wahlpflicht Probleme löst, gibt der Politikwissenschaftler Prof. Wolfgang Renzsch von der Otto-von-Guericke-Universität Auskunft.
Herr Professor Renzsch, Sie beobachten seit Jahren die Landespolitik Sachsen-Anhalts, haben schon viele Landtagswahlen erlebt, begleitet und evaluiert und mussten registrieren, wie eine immer größere Politikverdrossenheit der Bürger um sich greift. Welche Wahlbeteiligung erwarten Sie am 13. März?
Prof. Wolfgang Renzsch: Tendenziell gehe ich davon aus, dass die Wahlbeteiligung – leider – weiter sinken wird. Aber, das hängt auch davon ab, wie die Wahlberechtigten auf die Wahlprognosen reagieren. Bei den letzten französischen Regionalwahlen hat die Aussicht, dass der Front National die Wahlen gewinnen könnte, viele wahlmüde Bürger doch noch zur Wahlurne getrieben, um einen Erfolg der Rechtsextremisten zu verhindern. Vielleicht gibt es in Sachsen-Anhalt auch einen solchen Effekt.
Man sollte aber, meines Erachtens, die Frage der Wahlbeteiligung auch nicht dramatisieren. Wir haben bei Bundestagswahlen eine Beteiligung von über 70 Prozent, bei Landtags-, Kommunal- und Europawahlen von ca. 50 Prozent. Das ist im internationalen Vergleich eher normal: Insbesondere die Schweiz und die USA, aber auch Großbritannien verzeichnen eine eher geringe Beteiligung, lediglich Belgien, wo es eine Wahlpflicht gibt, und die skandinavischen Länder zeichnen sich durch eine höhere Wahlbeteiligung aus. Viel besorgniserregender ist aus meiner Sicht der Mitgliederverlust der großen Parteien, die in den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder verloren haben. Damit schwindet ihre Verwurzelung in der Bevölkerung und populistische Bewegungen können in diese Lücke stoßen. Außerdem erleben wir, dass die „Weltsicht“ der verbliebenen Parteiaktivisten eine andere ist als die der Wähler, was die Entfremdung weiter fördert.
Aber wäre dann die Einführung einer Wahlpflicht nicht sinnvoll, eine Verpflichtung der Bürger, sich aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft und der Lösung von Problemen zu beteiligen?
Das glaube ich nicht. Erstens ist eine Wahl schon vom Begriff her eine freiwillige Entscheidung und zweitens wäre es schwer, Nichtwählen zu sanktionieren. In Ländern, in denen theoretisch eine Strafe auf Nichtteilnahme bei Wahlen steht, werden diese nicht durchgesetzt. Außerdem kann der potenzielle Nichtwähler auch einen ungültigen Stimmzettel abgeben.
Bei der letzten Umfrage des insa-Instituts liegt die CDU in Sachsen-Anhalt mit 30 Prozent vorn, gefolgt von der Linkspartei mit 21 Prozent. Die AfD zieht mit 17 Prozent erstmals an der SPD vorbei, die nur noch auf 16 Prozent der Stimmen kommt. Was würde diese Verteilung im Landtag für die Koalitionsmöglichkeiten bedeuten?
Da die AfD keine koalitionsfähige Partei ist, bleibt für eine Koalition nur die Konstellation CDU mit Linkspartei oder SPD. Da die erste Variante aus inhaltlichen Gründen ausscheidet, wird es wahrscheinlich bei der bestehenden Koalition aus CDU und SPD bleiben.
Welche Konsequenzen hätte der Einzug der AfD in den Landtag Sachsen-Anhalts für die Landespolitik, gäbe es gravierende Veränderungen für die Bürger?
Vermutlich nicht. Wir wissen aus den Kommunalparlamenten und Landtagen, in denen die AfD bereits vertreten ist, dass sie nicht in der Lage ist, konstruktiv politisch zu arbeiten. Außerdem hat sie sich als Ein-Punkt-Bewegung inhaltlich mit der Kernbotschaft „Flüchtlinge raus“ und „Grenzen zu“ auf ein Thema konzentriert, für das nicht das Land, sondern der Bund und die EU zuständig sind. Insofern werden die AfD-Wähler eine große Enttäuschung erleben, weil ihre Partei nichts bewegen wird. Wir hatten in den 90er Jahren die Deutsche Volksunion DVU mit 12 Prozent im Landtag und auch das ist weitgehend spurlos am Land Sachsen-Anhalt und seinen Bürgern vorbeigegangen.
Die letzten 24 Monate waren landespolitisch durch Spardebatten im Wissenschaftssystem geprägt, Uni-Rektor Prof. Dr.-Ing. Jens Strackeljan signalisierte bei der Unterzeichnung der Zielvereinbarungen mit dem Wissenschaftsministerium deutlich Gesprächsbedarf bei der Berechnung der Grundfinanzierung und Mittelverteilung. Wie schätzen Sie – sollten die Prognosen sich bestätigen – die Folgen für die Wissenschaftsstrukturen und Forschungskapazitäten des Landes ein?
Meine Befürchtungen sind: Es wird weitergehen wie bisher. An der engen Finanzlage des Landes wird sich nichts ändern. Der Bund darf – so die aktuelle Rechtslage – die Hochschulen nicht auf Dauer finanzieren, sondern kann nur befristet Lücken stopfen.
Man muss hier also erst einmal auf das Grundproblem schauen. In der Bundesrepublik ist der Bund die finanzstarke Ebene, die Länder sind ihm gegenüber schwach. Wenn die Länder unter Spardruck stehen, können sie nur in den Bereichen streichen, in denen sie auch die Gesetzgebung besitzen, nicht in denen, die bundesgesetzlich geregelt sind. Konkret liegen Sparmöglichkeiten der Länder nur in den Bereichen kommunale Angelegenheiten, innere Sicherheit, Bildung, Wissenschaft und Kultur. In einer alternden Gesellschaft werden dann Bildung, Wissenschaft und Forschung zu den Sparschweinen der Nation. Wir bräuchten also eine grundsätzlich andere Finanzierung der Hochschulen, ähnlich der der außeruniversitären Forschungsinstitute, die der Bund zu 50 bis 90 Prozent finanziert. Wir sehen auch, dass diese Institute Hervorragendes leisten.
Sie sind seit Jahren ein aufmerksamer Beobachter der Landespolitik, evaluieren, bewerten, erforschen und prognostizieren das politische Leben Sachsen-Anhalts. Kommen Ihre Forschungsergebnisse und wissenschaftlichen Studien bei den Verantwortlichen an?
Selten. Das liegt in erster Linie daran, dass in der Politik nach politischen Kriterien, nach Macht und Einfluss, weniger nach sachlich angemessenen Maßstäben entschieden und agiert wird. Die möglicherweise sachlich beste Lösung – wobei hier schon strittig sein dürfte, was die beste Lösung ist, ist nicht notwendigerweise die politisch optimale. Das ist ein Widerspruch, der nicht ohne weiteres zu lösen ist.
Wie entscheidend ist es eigentlich noch, wer uns regiert? Was kann Landespolitik überhaupt noch leisten?
Hier gilt es, erst einmal zu klären, wofür Landespolitik zuständig ist. Grundsätzlich weist das Grundgesetz den ganz überwiegenden Teil der Gesetzgebung dem Bund zu, den Ländern die Ausführung von Bundesgesetzen, also weniger die Gestaltung, sondern die Verwaltung. Aber auch in den Bereichen, in denen das Land selbst Gesetze machen kann – Polizei, Kommunales, Kultur, Schulen und Hochschulen – sind die Spielräume und Gestaltungsmöglichkeiten der Länder durch Vorgaben des Bundes oder durch eine „horizontale Selbstkoordinierung“, ein Beispiel ist die Kultusministerkonferenz, begrenzt. Grundsätzliche Politikwenden sind daher auch durch Regierungswechsel kaum zu erwarten, eher Justierungen im Rahmen des Machbaren. Ein Kollege hat das einmal so umschrieben: „Nach einem Regierungswechsel ändert das Staatsschiff seinen Kurs nicht um 180, sondern bestenfalls um 5 bis 10 Grad. Erst auf längere Sicht kommt es in einem anderen Hafen an.“
Was wünschen Sie sich persönlich für den 13. März 2016?
Eine rege Wahlbeteiligung und Bürger, die mit Vernunft und nicht aus dem Bauch heraus wählen.
Fragen: Katharina Vorwerk