Ostdeutsche Risse

risseAxel R. ist ein Mensch mit ostdeutschen Wurzeln. Gute und böse Leute gab es für ihn erst in Märchen, später in staatlichen Doktrin und dann in erlebbarer Geschichte. Was einst böse war, sollte plötzlich gut sein. Neue Lehrer – neue Sichtweisen, aber kaum Klarheit. Eine Seele bekommt Risse, wenn ihr ständig jemand erklären will, dass sie auf der falschen Seite lebt. Von Thomas Wischnewski

Axel R. nannte man ein aufgewecktes Kind. Zuhause war er wohl behütet. Zu seiner Kindheit gehörten die vielen, schönen Märchen und Geschichten, in denen stets das Gute über das Böse siegte. Er fantasierte seine ersten Lebensvorstellungen und teilte die Welt in Himmel und Hölle. Als sich der Weihnachtsmann, der oft ersehnte Wunscherfüller und Artigkeitsbeobachter, als Trugbild entpuppte, mag die Enttäuschung über die Lüge einen zarten Riss in seiner Seele hinterlassen haben. Doch waren die Alltage bald mit Lernen erfüllt und mit ungebändigter Neugier auf die Welt und das Leben, in dem scheinbar alles wie von selbst funktionierte. Seine Mutter bereitete das Essen zu und der Vater mahnte häufig, Speis und Trank zu ehren, weil er selbst noch den Hunger im Krieg und danach gekannt habe. Hunger? Das Gefühl war dem Jungen bekannt. Es kam täglich und konnte richtig wehtun. Aber war das derselbe Hunger, den der Vater anmahnte? Axels Eltern zählten zur Generation der Babyboomer, und seine Altersgenossen waren so zahlreich wie nie zuvor in der deutschen Geschichte. Doch Begriffe konnte sich der Heranwachsende davon noch nicht machen. Seine Welt reichte damals kaum über den Stadtteil hinaus. Die Entfernung vom Elternhaus bis zur Schule war das bestimmende Entfernungsmaß. Eine Urlaubsreise an die Ostsee dauerte eine Ewigkeit, und dass sein Heimatland ein geteiltes war, blieb ihm zunächst ein unbekannter Umstand. Im Geschichts- und Geografieunterricht kamen Karten und vergangene Ereignisse unter Axels Augen. Ein wenig erinnerten die Erzählungen der Lehrer an die Märchen über die guten und die schlechten Menschen. Aber wenn doch diesseits das Gute wohnte, warum wollten andere dann dort leben, wo das Böse herrschte? Solche Fragen mögen Axel damals bewegt haben. Als er zum jungen Mann herangereift war, riss die Wirklichkeit mit manchem Zweifel an einem allgegenwärtig proklamierten Anspruch einer heilen Welt. Aber das Gute war tief eingegraben in die Axel-Seele. Dass sein Vorteil, das Abitur abzulegen und studieren zu können, noch lange keine Gerechtigkeit war, blieb in seinem Selbstverständnis vorerst ohne Wirkung. Wehrdienst – das war eine unangenehme Pflicht. Da musste man als Mann durch. Generationen haben den Dienst an der Waffe absolviert wie eine notwenige Lehrausbildung. Das physische und oft sinnlos empfundene Unterfangen fand mit seinem Studienbeginn ein biografisches Ende. Ost-Berlin war ein weites Pflaster, viel weiter als die Arbeiterstraßen in Magdeburg. Zum ersten Mal hatte Axel ein Gefühl von Freiheit. Eltern oder Offiziere redeten nicht mehr in den Ablauf eines Tages hinein. Einzig Zeiten für Vorlesungen und Seminare setzten Grenzen. Mit Kommilitonen konnte er zeitlos diskutieren. Es galt, die Welt aus den Angeln zu heben. Besser und gerechter sollte sie werden, vor allem dort, wo das Kapital die Arbeitskraft kaufen konnte und der Wert des Menschen lohnabhängiger Zwang war. Freiheit blieb zunächst eine philosophische Kategorie. Aber sie wurde bald konkret. Als ein Student mit dem Paragraf 213 des Strafgesetzbuches der DDR (ungesetzlicher Grenzübertritt) kollidierte und seine Zukunft von der Sektionsleitung der Universität abgeschnitten wurde, war Axel R. tief irritiert. Der Freund, mit dem er ein Zimmer im Wohnheim teilte, war weder Feind noch Verräter. Doch 1989 waren die einstigen Gegner plötzlich Brüder und Schwes-tern. Und jene Bürder, von denen man angeblich etwas lernen sollte, zogen gen Osten ab. Der Traum, in dem Axel manchmal von einer viel größeren Heimat spekuliert hatte, war wahr geworden. Nur durch seine Zukunftspläne zog sich jetzt ein tiefer Riss. Der Staat, für den er studiert hatte, lag auf dem Müllplatz der Geschichte. Mit Mitte 20 war noch jede Menge Hoffnung in Axel. Wo etwas zu Ende ging, begann auch etwas Neues. Aufbau Ost, Demokratie, Freiheit – das waren die Schlagworte am Anfang der 90er Jahre. Jedoch galten zunächst viele, die einst den Guten zugerechnet wurden, nun zu den Bösen. Axel R. bestimmte sich neu. Für alles, was kommt, wollte er offen sein. Das Leben schenkte ihm neue Chancen, anderen blieben die Möglichkeiten dagegen verwehrt. Tausende Magdeburger, die Jahrzehnte lang ihr Leben in Werkhallen dem Eisen und Stahl verschrieben hatten, standen jetzt beim Arbeitsamt Schlange. Schlange stehen – das gehörte zum vertrauten DDR-Alltag. Nicht mehr gebraucht zu werden, war eine neue Erfahrung. Axel R. besaß wohl ein gutes Rüstzeug für den Weltenwandel, der sich vor ihm ausgebreitet hatte. Er nutzte die Chance. Über das sich wandelnde Magdeburg schrieb er, über Menschen, die Wege beschritten und solche, die scheiterten. Manche Tage fühlten sich leicht an, und solche, die schwer waren, empfand er oft eher als eine Herausforderung. Für ihn öffnete sich die Zukunft, anderen blieb sie verschlossen. Das Schicksal trug damals häufig den Namen „die Umstände“. Von gut oder böse war keine Rede. Wie viel man selbst Umstand war, blieb ein unbestimmter Maßstab. Nichts war mehr richtig, aber alles dafür richtiger. Die Welt teilte sich in Ossis und Wessis, gehende, bleibende oder kommende. Jene, die von hier nach drüben gingen, blieben dort häufig fremd. Menschen, die von dort nach hier kamen, klebte nicht selten das Etikett „Besser-Wessi“ an. Wohlstand sollte jetzt wählbar geworden sein. Glück hatte kein staatlich reguliertes Gesicht mehr, sondern ein privates. Kapital konnte man indes nicht wählen. Das schwebte zwar über allem, nur nie an der richtigen Stelle. Axels Glück hießen Arbeit und eine kleine Familie. Der neue Staat nahm ihn unter seinen warmen Rock, jedoch nur für kurze Zeit. Nach wenigen Monaten blieben ihm wieder nur Kopf und Hände für alles, was kommen würde. Selbstständigkeit ist ein hartes Geschäft. Auch das musste Axel R. erfahren. Zwölf und mehr Stunden, sieben Tage die Woche. Das zehrte an seiner Gesundheit und zerriss die Familie. Vielleicht waren die Gene gut, möglicherweise auch der Intellekt. Sich aus dem Nichts aufrappeln zu können und wieder einen Weg zu finden, musste sich irgendwie erklären lassen. Magdeburg ist ein übersichtliches Städtchen. Wer hier aufgewachsen ist, hat Schulfreunde, Arbeitsbekanntschaften und kennt vielleicht Hinz und Kunz. Das kann hilfreich sein, wenn man sich verändern muss. Ein Leben lang einen Job zu meistern – die Vorstellungen hatte Axel mit dem Wort Globalisierung ad acta gelegt. Politisches Engagement – das gehörte in die Epoche, als er noch in gut und böse unterschieden hatte. In Parteien lebte viel selbsternanntes Gutes. Die politischen Gegner waren die Bösen. Die Farbenlehre des Guten kannte viele Tönungen: schwarze, gelbe, rote, grüne oder pinke. Jeder rüttelte am Ruf des anderen, aber dann war regierende Eintracht. Demokratie eben. Axel R. durfte seit der Wende endlich wahrhaft wählen. Die DDR-Staatsrechtslehre hatte ihm schon offenbart, dass der SES-Machtanspruch in keinem Gesetz gestanden hätte. Die Diktatur nimmt sich, was sie braucht. Wahl-Kandidaten konnte sich keiner aussuchen. Stimmzettel hatten nicht den Wert, worauf sie gedruckt waren. Doch jetzt war eine andere Zeit. Über Parteien und ihre Programme konnte man abstimmen, jedoch nicht über Listenplätze. Die Welt um Axel drehte sich weiter. Inzwischen redeten viele über soziale Projekte. Aber wie viele lebten sie? Geld regierte immer die Welt und immer den kleinen Mann. Ideen kamen und gingen. Manchem verschafften sie Reichtum, anderen schenkten sie Erfüllung. Axel R. strauchelte wirtschaftlich. Liegen blieb er nicht. Die Gesundheit trug ihn, der Geist war optimis-tisch und blieb begeisterungsfähig. Sein häufiges Hinfallen und Aufstehen würde sich vielleicht als Beispiel eignen. Doch wer sieht schon die tiefen Brüche in einem Leben. Aufstehen ist ein einfaches Wort. Axel R. musste manches Mal die Höhe in der Tiefe suchen und im Morast den Himmel. Was sind gerade Wege? Nicht einmal Ostdeutsche verstehen ostdeutsche Biografien. Manager erkennen Kapazitäten und Potenziale. Die Risse in einer Seele sehen sie nicht. Im Geist eines Menschen brennen sich mit Kindheitstagen Bedeutungen ein. Gut und böse, richtig und falsch geistern als Metaphern durchs Leben und kleben als Etiketten am Zeitgeschehen. Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie – das sind so schöne Formeln für das menschliche Selbstverständnis. Was wird aus ihnen, wenn sie von anderen umgedeutet werden. Nach jedem Richtungswechsel wog Axel R. solche Worte neu. Geld und Vermögen – ein Maßstab für Gerechtigkeit? Arbeit oder keine – die Ungerechtigkeit des Seins? Auf anderen Kontinenten schuften Menschen täglich 12 oder 14 Stunden am Fließband – in Deutschland steht die Gerechtigkeit schon am Pranger, wenn das Limit einer 38-Stunden-Woche überschritten wird. Die Deutschen sind eben ein fleißiges Volk. Mancher Glaube hält ewig. Plötzlich schießen durch die Gegenwart neue Vorwürfe: gegen eine Diktatur des Establishments. Was demokratisch belegt war, wird undemokratisch umgemünzt. Die einen sollen besser sein als die anderen. Etiketten werden links und rechts geklebt. Das ist so leicht. Das ähnelt einem Kreislauf. Für die bessere Zukunft stehen immer jene, die den Untergang sehen können. Was wäre wohl die Christenheit ohne die Ankündigung der Apokalypse? Und was, wenn sie sich gar erfüllt hätte? Axel R. hat keine Probleme mehr damit, auf einer angeblich falschen Seite zu stehen. Da stand er quasi schon immer, entweder politisch, am falschen Arbeitsplatz oder nicht auf der Sonnenseite. Falsch ist, wo ostdeutsch ist. Für Axel R. ist das erlebte historische Tatsache oder sein ostdeutsches Karma. In TV-Debattenstunden bekommt er für sein Anderssein sein Fett weg. Der Spiegel, der ihm dort vielfach vorgehalten wird, ist nicht seiner. Blitzblanke Erklärungszüge von links, rechts oder aus der Mitte haben mit seinen Rissen wenig gemein. Axel R. verurteilt die Etikettierer nicht. Er ist verbittert über Wahrheitssucher im Nebel, über Schlüsse aus Glaskugel-Statistiken, über Gerechtigkeitsreferenten, die wissen, was sein Leben ausmacht. Über die ungewöhnlich vielen Risse seiner ostdeutschen Biografie redet selten jemand. Axel R. hat gelernt, damit zu leben. Besser wird dadurch nichts, nur er dünnhäutiger. Manchmal schäumt er über. Dann möchte er sich die Haut vom Leib reißen, damit jemand die Risse auf seiner ostdeutschen Seele erkennen kann.