Die Geschichte der Magdeburger Internationalität begründet sich auf das Wirken des ersten deutschen Kaisers an der Elbe.
Von Nastasia Pape
St. Mauritius – der Legende nach wird der Anführer der Thebaischen Legion in der römisch-katholischen Kirche seit dem 4. Jahrhundert als Heiliger verehrt. Der Schutzheilige des Magdeburger Domes ist eben dieser Mauritius und er zeigt sich in der figürlichen Darstellung eines Schwarzafrikaners in der Mitte des 13. Jahrhunderts. Die Welt war offensichtlich seit dem Mittelalter ganz selbstverständlich in der Elbmetropole zu Hause. Um eine solche kulturelle Vielfalt an einem Ort zu bündeln, brauchte es jemanden, der bereit war, über Stadt- und Ländergrenzen hinaus zu blicken und der sich zur Welt hinwendete. Wenn es eine bedeutende Persönlichkeit gab, die Magdeburg genau diesen Blick in die Ferne ermöglicht hatte, dann war es Otto der Große, der erste deutsche Kaiser. Er wahr wohl rastloser Reisender und – was uns mit Stolz erfüllen sollte – Liebhaber seiner Stadt Magdeburg. Nicht umsonst heißt sie heute Ottostadt als eine Art Laudatio an den historisch bedeutsamen Herrscher mit internationaler Strahlkraft. Er hat Teile der Welt nach Magdeburg gebracht und unsere Stadtgeschichte mit der anderer Länder der Erde verknüpft. Um es in heutigen Worten zu sagen: Er pflanzte die ersten internationalen Wurzeln, deren fruchtbare Triebe bis in die heutige Zeit sichtbar blieben.
Auf diesem Weg kam der Heilige Mauritius zu uns. Seine Skulptur ist das älteste in Europa bekannte Abbild eines Schwarzafrikaners. 937, als Kaiser Otto das Benediktinerkloster St. Mauritius gründete, ernannte er den einstigen Feldherrn der Thebaischen Legion zum Schutzherrn seines Klosters. Wahrscheinlich, weil ihn seine Leidensge-schichte nicht mehr losließ: Kommandeur Mauritius und dessen Gefährten bildeten eine Legion, die zur Zeit der römischen Kaiser Diokletian und Maximian bei Theben in Ägypten diente. Die Männer waren vorwiegend christlichen Glaubens. Als Kaiser Maximian die Thebaische Legion dann in sein Heer einverleibt hatte, das er gegen die Christen einsetzen wollte, meuterten Mauritius und seine Anhänger, weil sie nicht die Angehörigen ihres eigenen Glaubens niedermetzeln wollten. Für diesen Ungehorsam erwartete sie ein grausamer Tod. Wie bezeichnend gerade diese Wahl des Schutzheiligen für Magdeburg war, wird sich noch in der Geschichte der Stadt zeigen.
Auch sonst brachte Otto der Große viel von seinen Reisen durch die Welt nach Magdeburg. Für die Gestaltung seines Domes ließ er für die Apsis Säulen aus Marmor, Granit und Porphyr aus Italien, vermutlich Ravenna, kommen. Der Überlieferung nach brachte Otto I. auch das Taufbecken von seinen Reisen mit, angeblich ursprünglich ein römischer Springbrunnen, der aus Hurghada in Ägypten stammt.
Dass hinter jeder Leidenschaft ein Ursprung steckt, dürfte klar sein. Die des Kaisers für fremdländische Schätze rührt vielleicht von seiner ersten Gemahlin Editha, die ihre Wurzeln ebenfalls außerhalb des Deutschen Reiches hatte. Sie war die Tochter König Eduards des Älteren von Wessex. Als Enkelin Alfreds des Großen und Nachfahrin des heiligen Oswald entstammte sie dem angesehensten angelsächsischen Geschlecht. Ihr wird nachgesagt, dass sie die Liebe zu Magdeburg mit ihrem Gatten teilte. Wen würde es da wundern, dass sie nach ihrem Tod 946 im Mauritiuskloster beigesetzt wurde. Ein weiterer kostbarer Schatz also, der noch heute im Magdeburger Dom verborgen liegt und ihm ein Stück mehr internationalen Glanz verleiht.
Sogar nach seinem Tod folgten die Magdeburger Ottos Obsession für fremde Kulturen und schufen den späteren Dom, dessen Bau 1209 begann, in gotischem Stil als ersten auf deutschem Boden. Die Architekturepoche der Gotik entsprang um 1140 den gescheiten Köpfen von Architekten rund um und in Paris. Sie macht auch in der Elbestadt eine sehr gute Figur. Schon aus einiger Entfernung wird er, majestätisch über der Stadt aufragend, für jeden Besucher sichtbar und frohlockt mit Versprechungen auf die internationalen Reichtümer, die sich in seinem Inneren befinden.
Das mittelalterliche Magdeburg rühmte sich jedoch nicht nur mit aus der Welt importierten Kostbarkeiten und Schutzheiligen, sondern auch durch sein damaliges bedeutendstes Exportgut des Hochmittelalters, dem Magdeburger Stadtrecht. Im Jahr 1188 wurde es durch den amtierenden Magdeburger Erzbischof Wichmann reformiert und für die Bürger abgemildert. Er stärkte mit seinen Veränderungen die Rechtssicherheit der Elbestadt im Allgemeinen und gleichzeitig auch die der Ortsfremden, die vor der Reform bei Missachtung des Rechts Gerichtsverhandlungen erwartete. Das erweckt fast den Eindruck, als hätte Wichmann eine Willkommensmatte für all die inländischen und vor allem ausländischen Besucher vor die Tore der Elbmetropole gelegt. Und so ergab es sich, dass jeder sich hier willkommen fühlte. Seine Reformierung des Rechts förderte die Anziehungskraft der Stadt als Handelsort und wie ein Lauffeuer verbreitete sich das Magdeburger Stadtrecht, besonders im östlichen Mitteleuropa und in Osteuropa. Zahlreiche Städte in Schlesien, Polen, der Ukraine und Litauen nutzten die Rechtsvorlage und folgten auch in ihrer Verfassung dem Vorbild der Mutterstadt. Im späten Mittelalter wandten sich sogar einige Städte, die nicht nach Magdeburger Stadtrecht lebten, bei strittigen Rechtsfragen und Gerichtsurteilen an den Magdeburger Schöffenstuhl und erbaten einen Rat. Und obwohl es nie in einer Sammlung aufgezeichnet wurde, blieb dennoch der Zusammenhang zwischen Magdeburg und den europäischen Städten bestehen, wodurch die Einheitlichkeit des Magdeburger Rechts gefestigt wurde. Erst im 13. Jahrhundert existierten sogenannte private Sammlungen, die einzelne Personen anlegten, um sie für die Rechtsprechung und die Rechtswissenschaft zu konservieren.
Als Vorreiter des Rechts wussten die Magdeburger natürlich genau, was sie als nicht rechtens empfanden – nämlich einem Volk einen Glauben aufzuzwingen, mit dem es nicht konform ging. Paradoxerweise war es der Glauben, für den sich ihr Schutzheiliger Mauritius Jahrhunderte zuvor geopfert hatte. Seine Schützlinge lehnten den Katholizismus zur Zeit der Reformation ab und begannen sich ihm entgegen zustellen. Eine starrköpfige Stadt, die als einzige für die Überzeugung ihrer freigewählten Religion eintrat und sich weder durch einen Kaiser noch durch einen Papst beirren ließ. Verdient trug Magdeburg die Namen „Hort des Protestantismus“ und „Unseres Herrgotts Kanzlei“. Der Papst versuchte das lodernde Feuer der Rebellion 1547 mit der Verhängung der Reichsacht über die Stadt zu ersticken, erfolglos. Stattdessen lockte die Aufmüpfigkeit der Magdeburger viele Anhänger des neuen evangelischen Glaubens an, darunter auch viele aus Europa. Flacius Illyricus, ein lutherischer Theologe aus dem heutigen Kroatien, war einer von ihnen, der sich in Magdeburg hei-misch fühlte. Er war von 1559 bis 1574 der Hauptinitiator der in Basel erschienenen „Magdeburger Centurien“, ein epochales kirchengeschichtliches Werk in 13 Bänden. Unter Historikern gilt es als der erste Versuch, eine umfassende Kirchengeschichte aus Sicht der Reformation zusammen zu stellen.
Tatsächlich lassen die geschichtlichen Fakten nur eine Schlussfolgerung zu: Sachsen-Anhalt ist Ursprungsland der Reformation und Magdeburg die Hauptstadt und gleichzeitig Brutstätte der Reformatoren. Der Einfluss der Elbmetropole stieg ins Uner-messliche. Doch wie viel Ansehen und Macht darf eine Stadt haben, bevor sie zu bedeutsam wird? Im Falle Magdeburgs war das Maß wohl während des 30-jährigen Krieges erreicht. Die Stadt genoss eine Ausstrahlung, die noch bis in die entlegensten Nischen Europas bekannt war. Je mehr ihr Ansehen jedoch wuchs desto mehr Angriffsfläche bot die Elbmetropole während des Krieges für die kaiserlichen Truppen, die langsam immer näher an den Ort des Aufstandes heranrückten. Angeführt vom Feldherrn Tilly, der die Stadt mehrere Jahre belagerte und Verhandlungen mit ihr führte, drangen die kaiserlichen Truppen schließlich gewaltsam in die Stadt ein und hinterließen nichts als Verwüstung. Als einzige der Hansestädte im Reich wurde Magdeburg nahezu dem Erdboden gleich gemacht und mit ihr 20.000 Bürger. Häuser, Straßen, Reichtümer und die Bedeutung Magdeburgs zerfielen zu Asche und Staub. Nur 449 Einwohner standen den übrig gebliebenen Trümmern machtlos gegenüber, wie eine amtliche Zählung der Schweden im Februar 1632 zeigte. Damit waren die Ureinwohner Magdeburgs und deren bis dahin gesammelte internationale Schätze fast vollständig vernichtet. Ein bedeutender Bruch im historischen Verlauf der Stadt, quasi ein Nullpunkt, an dem Magdeburg von vorn beginnen musste. Die weitere Entwicklung verlief somit unter deutlich anderen Bedingungen und Perspektiven, stellte sogar das Bestehen der Stadt in Frage.
Die Parallelen zur früheren Stadtgeschichte könnten kaum deutlicher sein. Wie auch ihr Schutzherr Mauritius mussten die Magdeburger ihr Leben für ihre religiöse Überzeugung lassen. Otto der Große konnte unmöglich ahnen, dass die Einwohner seiner geliebten Stadt das gleiche Schicksal, wie das ihres Schutzheiligen ereilen würde.
Nach diesem herben Rückschlag brauchten Stadt und Bewohner eine lange Zeit, um sich den Staub von den Dächern und der Kleidung zu klopfen. Erst 1692 wird eine Baukommission zur Leitung des Wiederaufbaus der Stadt berufen. Recht spät, wenn man bedenkt, wie einflussreich die einzige Handelsstadt vor der Zerstörung im Dreißigjährigen Krieg war. Langsam lief die Betriebsamkeit in der Elbestadt wieder an. Mit der Industrialisierung kehrte auch der Aufschwung wieder ein. Ausländische Maschinenbauer und Ingenieure kamen nach Magdeburg, um sich hier niederzulassen, darunter auch der Waliser Samuel Aston mit seinen Geschwistern. Er wurde hier 1818 als Mechaniker und Erbauer einer Dampfmaschine bekannt. 1823 eröffneten die Brüder Aston in Magdeburg eine mechanische Werkstatt am Knochenhauerufer, die sich 1829 am Trönsberg (Thränsberg) zur Maschinenfabrik und Eisengießerei Gebrüder Aston & Co. entwickelte. Mit der industriellen Ansiedlung von Maschinenfabriken, dem Ausbau der Schifffahrt 1838 und der Eisenbahnnetze zwischen umliegenden Städten und Gemeinden, wächst auch das Interesse der Menschen, sich hier anzusiedeln. Für viele erlangte die einstige Bastion des Protestantismus und Wegbereiter des Stadtrechts ihre Strahlkraft zurück. In Magdeburg blühte ein frühes Zentrum der Industrialisierung Deutschlands in den Zweigen Landwirtschaft, Bergbau und Schifffahrt auf. Ab 1855 baute der Magdeburger Ingenieur Hermann Gruson eine Maschinenfabrik mit Eisengießerei auf und begründete damit die Schwerindustrie in der Elbestadt.
Von dem industriellen Aufschwung und den potenziellen Arbeitsplätzen beeinflusst, strömten die Menschen nach Magdeburg und ließen sich hier nieder. Die Einwohnerzahlen stiegen 1840 auf über 50.000 und verdoppelten sich bis 1880 auf 100.000. Somit war die Großstadt Magdeburg geboren. Mit dem Zuzug konnte sich die Stadt wieder ins Umland ausbreiten. Vor allem durch die Eingemeindungen Sudenburgs, Buckaus und der Neustadt. Durch die Industrialisierung kamen neue internationale Einflüsse nach Magdeburg. Aber Glanz und Gloria, die in mittelalterlichen Zeiten in alle Richtungen Europas strömten, gewann die Stadt in dieser Ausstrahlung nicht zurück. Doch längst knüpfen zahlreiche Menschen mit ihren Aktivitäten an einem größer werdenden Geflecht für internationale Bande, unter dem Magdeburg in der Welt sichtbar wird und die Welt in Magdeburg.