Ständig unter Strom

FrankhengstmannIch bin sehr hoffnungsvoll, dass der geneigte Leser dieser Kolumne die Titelzeile selbiger aus eigenem Antrieb richtig deutet. Ich gebe zu, diese Titelzeile könnte man auch in die Richtung einer nicht rühmlichen, permanenten körperlichen Verfasstheit des Autors deuten. Ständig unter Strom stehen könnte, dem Volksmund glaubend, auch implizieren das der Autor darum ringt, ein gleichbleibendes Level hochprozentiger Getränke jeglicher Art in seinem Körper, eine, sagen wir salopp, feuchtfröhliche Konstanz zu erhalten.

Nein! Es geht dem Autor dieser Kolumne wirklich nur um Strom. Und das ständig. Die erste wirklich greif- und begreifbare Erfahrung mit Elektrizität, also mit Strom, hatte ich als Kind mit etwa sechs Jahren. Als Kinderkabarettist war ich auf vielen Bühnen meines damaligen sozialistischen Vaterlands präsent. Unter anderem auch im „Haus der Pioniere“ in Magdeburg, dem heutigen „Gesellschaftshaus“.

Ich stand in der Gasse und wartete wie immer, sehr aufgeregt auf meinen Auftritt. Um mich selbst ein bisschen zu beruhigen, verschränkte ich meine Hände hinter meinem Rücken und machte Adrenalin senkende Fingerspiele. Aber wir wissen es nicht erst seit heute. Sechsjährige Finger und nicht nur von Kinderkabarettisten können sehr neugierig sein und müssen alles anfassen. Vor allem wenn sich sechsjährige Finger nicht beobachtet fühlen, weil sie sich hinter einem Rücken versteckt haben. Und genau in dieser Situation schlug das „erzieherische“ Schicksal mit 220 Volt zu, abgesichert von circa 16 Ampere. Meine neugierigen Kinderfinger ertasteten ein unter Strom stehendes „blank“- liegendes Elektrokabel. Ich bekam das erste Mal in meinem noch jungen Dasein mörderisch eine „gewischt“. Ein herz- zerreißender Kinderkabarettistenschrei weckte die Aufmerksamkeit des Publikums nun noch mehr.

Heute noch vermute ich, dass der Hausmeister damals im „Haus der Pioniere“ vergaß, die erforderliche Steckdose dort zu installieren, weil er wahrscheinlich selbst voll „unter Strom“ stand. Diesmal aber im Sinne des Anfangs der Kolumne.

Meine zweite Erfahrung mit Strom war ähnlich schmerzhaft. Nur diesmal nicht körperlich, sondern eher seelisch. Sagen wir besser emotional. Zeitlich aber bleiben wir da, wo wir waren. In der Kinderzeit. 1961 leisteten sich meine Eltern, unterstützt von guten Beziehungen, den ersten Fernsehapparat. Dieser Fernseher war einer der ersten in der gesamten Immermannstraße. Viele Kinder aus der Immermannstraße buhlten um meine Freundschaft. Ich hatte nämlich das Privileg wie einst Paris mit Apfel in der Hand, mir zwar nicht die schönste Frau auszusuchen, sondern ich konnte bestimmen, wer sich mit mir das „Sandmännchen“  bei uns zu Hause ansehen durfte.

Jeden Abend, kurz vor 18.50 Uhr stand ich wie Paris auf der Säule und wählte aus. Übrigens die Uhrzeit 18.50 Uhr ist die Uhrzeit die selbst die Wende schadlos überstand. Als heutiger Großvater weiß ich es. Das Sandmännchen flimmert noch heute um 18.50 Uhr über den Bildschirm.

Doch zurück zum damals und zum Strom. In der Immermannstraße 30 wohnten, inklusive Hinterhaus und sich auf den Hinterhof befindlichen Hühnerstall, 16 Mietparteien. Da die Hausnummer 30 aber über kein Stadtgas verfügte, bereiteten alle Bewohner ihr Abendessen mit elektrischem Strom zu. Das aber hatte wiederum zur Folge, das die Kapazität der vorhandenen Stromleitungen total überlastet waren. Wenn also alle das Gleiche wollen, also Strom aber nur 110 Volt zur Verfügung stehen, konnte es Probleme geben. Sogar sichtbare! Kurz vor dem Sandmännchen war sehr oft die Spannung weg. Also die Spannung, welche das Sandmännchen auch sichtbar machte. Oft war es wie ein Hörspiel. Wir hörten etwas, aber sahen nichts. Meine Eltern bezeichneten das dann zu sehende Fernsehbild als Strickmuster.

Aber es war Abhilfe in Sicht. Tüchtige Elektroingenieure entwickelten einen sogenannten Stromregler. Dieser aber kostete damals 30 Mark der DDR. Das monatliche Budjet meiner Eltern gab dieses Wunderwerk der Technik aber nicht her. Ich verlor meinen Paris-Status. Wir kommen nicht mehr. Wir sehen doch sowieso „nischt“. Ich musste also handeln. Ich versuchte es mit Bitten und Betteln, das wir uns so einen Stromregler  kaufen. Leider keine Reaktion der sonst doch geliebten Elternschar.

Schon damals war mir bewusst: Psychologische Strategien haben da wesentlich mehr Erfolg. Ich verbesserte in der Schule meine Gesamtleistung. Vor allem den Fächern Ordnung und Betragen.

Der Erfolg gab mir Recht. Eines Tages thronte auf unserem Fernseher ein neuer Stromregler. Alles war wieder gut. Das Strickmuster war verschwunden und die Freunde des Sandmännchens waren wieder da. Ich war wieder der Paris der Immermannstraße.

Fazit: Strom in jeglicher Form kann auch erzieherisch wirken. Auch wenn heutzutage Strom und Bildung ganz schön teuer sein können. Ach, und eines noch: Wenn sie zufällig das nächste Mal das Sandmännchen sehen, wäre es schön, wenn sie ein bisschen an mich denken. Gute Nacht!    Herzlichst, Ihr Frank Hengstmann