Wird man mit Rotwein und Diät 100?

Stufenalter_01Jeder wünscht sich ein beschwerdefreies, möglichst langes Leben. Über Wunsch und Wirklichkeit.

Von Peter Schönfeld

Noch vor hundert Jahren war es verbreitet, an einem runden Geburtstag ein Bild mit einer „Lebenstreppe“ zu verschenken.

Auf den Treppenstufen waren entweder Menschen in einem bestimmten Lebensalter oder Tiere abgebildet. Ein Fuchs auf der höchsten Treppenstufe sollte dem Geburtstagskind sagen, dass es mit 50 Jahren den Höhepunkt seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit erreicht hat und es sich ab nun auf das Altern einstellen muss. Was das eigene Lebensalter betrifft, drücken wir uns in der Regel um eine solche Bestandsaufnahme und informieren uns stattdessen lieber über Anti-Aging-Strategien. Die Sehnsucht nach einem beschwerdefreien und langen Leben ist uralt. Lucas Cranach (der Ältere) hat diesen Wunsch schon vor über vierhundert Jahren mit einem Bild vom „Jungbrunnen“ ausgedrückt. Darauf sind alte Frauen zu sehen, die in eine Badestelle steigen und diese verjüngt verlassen. Dabei können wir mit unserer heutigen Lebenserwartung von rund 80 Jahren schon sehr zufrieden sein. Im Vergleich dazu betrug die geschätzte Lebenserwartung des Steinzeitmenschen nur 35 Jahre. Diese Zeit reichte gerade einmal für die Zeugung von wenigen Kindern und deren Brutpflege aus. Da die Menschheitsgeschichte zu 99,5 Prozent in der Steinzeit ablief und damit unsere Biologie (Stoffwechsel, Verhalten) vom genetischen Erbe des Steinzeitmenschen geprägt ist („Der Mammutjäger in der Metro“), ist die heutige Lebenserwartung eine erstaunliche Errungenschaft der modernen Menschheitsgeschichte.
Einzelne Menschen sind allerdings auch schon in früheren Jahrhunderten sehr alt geworden. Michelangelo Buonarotti (1475 bis 1564), der Superstar unter den Renaissance-Künstlern, wurde trotz schwerer körperlicher Arbeit, einem getriebenen Lebensstil und dem jahrelangen Umgang mit giftigen Mineralfarben, 89 Jahre alt. Langlebigkeit unter schwierigen Lebensumständen wird heute mit guten Genen erklärt. Gene sind deshalb so wichtig, weil in ihnen die Baupläne von tausenden verschiedener Eiweiße archiviert sind, deren Zusammenspiel die Grundlage unseres Lebens ist. Da Eiweiße fragile Moleküle sind, die dem ständigen Verschleiß erliegen, müssen sie immer wieder mittels der in den Genen gespeicherten Baupläne neu gebildet werden.
Menschen können wahrscheinlich maximal 121 Jahre alt werden. Diese Prognose ergibt sich aus den (dokumentierten) Lebensdaten der 100 ältesten Menschen, die ein Alter zwischen 114 und 121 Jahren erreicht haben. Die wichtigste Voraussetzung für Langlebigkeit ist der ererbte „Gen-Cocktail“, was überzeugend durch die Zwillingsforschung gestützt wird.  So sind eineiige Zwillinge (deren ererbte Gene sind nahezu identisch) häufiger gemeinsam von alterstypischen Erkrankungen (Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs) betroffen als zweieiige Zwillinge, deren Gene sich stärker voneinander unterscheiden. Durch defekte Gene kann das Altern extrem beschleunigt werden. Bei der Progerie, einer seltenen Erkrankung, ist der normale Alterungsablauf total entgleist. Die Betroffenen vergreisen bereits im frühen Kindesalter und sterben nach 12 bis 18 Jahren häufig an einem Herzinfarkt. Dank der gelegentlich geschmähten Schulmedizin, der verbesserten Umweltsauberkeit und Lebensmittelreinheit hat sich im letzten Jahrhundert die durchschnittliche Lebenserwartung stark erhöht. In früheren Jahrhunderten erkrankten und starben Menschen regelmäßig an durch Mutterkorn verunreinigtem Mehl („Antoniusfeuer“). Heute erreichen in Westeuropa relativ viele Menschen ein biblisches Alter. 1938 wurden in Deutschland 3 Über-Hundertjährige gezählt. Nach der Jahrtausendwende (2002) waren es bereits 10000 und diese Zahl soll sich bis 2050 bis auf 70000 erhöhen.
Warum Altern wir aber schon viel früher und auch noch so unterschiedlich schnell?  Nach der Entdeckung der Röntgenstrahlung und des Radiums wurde schnell klar, dass energiereiche Strahlung Gewebeschäden verursacht und das Altern beschleunigt. Auf solchen Beobachtungen aufbauend schuf der amerikanischen Biologe Denham Harman fünfzig Jahre später (1954) die „Radikal-Theorie des Alterns“.  Radikale werden aber auch im normalen zellulären Stoffwechsel gebildet. Ursache dieser Radikalbildung ist der Sauerstoff und dessen Chemie. Damit die mit der Nahrung aufgenommenen Energieträger (Kohlenhydrate, Fette) im Körper verbrannt werden können, muss ein Mensch rund 400 l Sauerstoff am Tag einatmen. Im Verlauf eines 70jährigen Lebens sind das 17 Tonnen Sauerstoff. Obwohl der Sauerstoff unseren Körper zum allergrößten Teil als harmloses Wasser und Kohlendioxid „verlässt“, wird ein sehr geringer Teil in Sauerstoffradikale umgewandelt. Diese Radikale besitzen eine stärkere Oxidationswirkung als der Sauerstoff und verursachen „oxidativen Stress“ in den Zellen. Radikale werden dann zu einer ernsthaften Gefahr, wenn ihre Bildung durch defekte Zellkraftwerke (Mitochondrien) erhöht ist oder wenn sie nicht ausreichend von der Zelle entsorgt werden. Dann werden nämlich die fragilen Körpereiweiße geschädigt, Zellmembranen bekommen Löcher und, was am schwersten wiegt, es sammeln sich Mutationen in den Genen an. Diese Mutationen verändern oder zerstören die Eiweißbaupläne. Wenn es den Zellen nicht gelingt, die Mutation in den Genen zu reparieren, werden Altersvorgänge aktiviert. Es gibt heute zahlreiche Belege dafür, dass Radikale an über 200 Zivilisations- und Alterserkrankungen beteiligt sind. Die Sauerstoffradikale müssen deshalb als ein Katalysator des Alterns angesehen werden. Die Theorie von den „alt-machenden“ Sauerstoffradikalen hat dazu geführt, dass für den Kauf von „Radikalfängern“ (Antioxidantien) als Anti-Aging-Droge geworben wird. Dies gilt auch für den Rotwein, dem ein hohes antioxidatives Potential nachgesagt wird. Wie kam es zu dieser Vermutung? Es ist bekannt, dass die französische Bevölkerung trotz eines überdurchschnittlich hohen Fettverzehrs, weniger von Herz-Kreislauf-Erkrankungen betroffen ist („Französisches Paradoxon“). Dieser Fakt wurde in einem renommierten Medizinjournal mit dem hohen Rotweinkonsum der Franzosen erklärt. Nachdem diese Hypothese von einem amerikanischen Fernsehsender öffentlich gemacht wurde, waren am folgenden Tag die Rotweinbestände landesweit nahezu ausverkauft. Seither wird weltweit versucht, dem Resveratrol, einem phenolischen Inhaltsstoff der roten Weintrauben, eine besondere Wirkung als Radikalfänger nachzuweisen. Leider haben die dazu durchgeführten Untersuchungen die Erwartung nicht erfüllt. Auch im Falle von anderen Antioxidantien, wie den Vitaminen C und E oder dem Ubichinon 10 (Q10) waren die Ergebnisse enttäuschend. Bei einer ausgewogenen Ernährung werden genügend Vitamine aufgenommen. Ein darüber hinaus gehender Vitamin-Konsum  kann sogar schädlich sein, und, wie im Fall von Vitamin E, die Krebsgefahr bei Rauchern erhöhen. Die enttäuschenden Ergebnisse über den Einfluss von Antioxidantien auf den Verlauf des Alterns lassen sich damit erklären, dass ein Zuviel entweder schädliche Nebenwirkungen auslöst oder die Bildung der Sauerstoffradikale zu stark erniedrigt. Letztere sind in geringen Mengen als Signale für die Regulation des zellulären Stoffwechsels unentbehrlich. Somit gilt auch hier der Ausspruch des mittelalterlichen Urvaters der Medizin (Paracelsus): „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift sei.“
Als alternative Anti-Aging-Strategie wird gegenwärtig die Kalorienreduktion diskutiert. Vor Jahrzehnten beobachtete der amerikanische Ernährungswissenschaftler Clive McCay, dass auf Schmalkost gesetzte Laborratten eine um ein Drittel höhere Lebenserwartung haben. Bei einer solchen kaloriereduzierten Kost müssen die Versuchstiere mit bis zu 30% weniger Kalorien auskommen. Die Wirkung des Kalorienverzichts wurde auch mit männlichen Rhesusaffen untersucht. Dabei ergab sich, dass von jeweils 38 Affen einer „Normalgruppe“ (kein Kalorienverzicht) und einer „Hungergruppe“ am Versuchsende 14 bzw. 5 an Alterschwäche gestorben waren. Die auf Schmalkost gesetzten Affen lebten nicht nur länger, sondern waren auch deutlich gesünder. So traten Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs nur halb so häufig in der „Hungergruppe“ auf. Auch war keines der Tiere aus der „Hungergruppe“ an Altersdiabetes erkrankt. Überraschend war auch, dass die Affen-Methusalems der „Normalgruppe“ im Unterschied zu denen der „Hungergruppe“, deutliche Verluste an grauer Gehirnsubstanz hatten. Was könnte nun die Ursache für einen durch Schmalkost bewirkten lebensverlängernde Effekt sein? Generell erniedrigt eine Kalorienreduktion den Grundumsatz, wodurch weniger Radikale  in den Zellen gebildet werden.
Als Anti-Aging-Strategie ist aber eine solche jahrzehntelange, drastische Kalorienreduktion wegen des damit verbundenen Verlustes an Lebensqualität für die Mehrheit von uns inakzeptabel. Abgesehen davon weiß man auch, dass ein ausgeformter Körper, Frauen im reiferen Alter besser vor Osteoporose schützt. Männer haben aber noch eine andere Reserve zur Lebensverlängerung. Bisher wurde nämlich angenommen, dass die höhere Lebenserwartung der Frauen (4 bis 14 Jahre) eine biologische Ursache hat. In einer Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts durchgeführten Studie wurde das gut dokumentierte Leben von 11.000 Nonnen und Mönchen von insgesamt zwölf bayerischen Klöstern im Zeitraum 1890 bis1995 unter die Lupe genommen. Diese „Klosterstudie“ ergab, dass Männer innerhalb von Klostermauern fast fünf Jahre älter werden. Damit erreichen sie fast das Lebensalter von Frauen. Im Gegensatz dazu, werden Nonnen kaum älter als Frauen außerhalb der Klöster. Auch waren die Nonnen nicht besser vor Erkrankungen geschützt. Die Nonnen hatten sogar ein größeres Risiko an Brustkrebs zu erkranken – was mit dem Nicht-Stillen erklärt wird. Für die Männer zeigt die „Klosterstudie“ ganz klar, dass ihr Lebensstil die Hauptursache für das frühere Ableben ist.
Welches Fazit sollten wir nun aus diesen Zeilen ziehen? Hierzu drei abschließende Bemerkungen. Mit einer vernünftigen Lebensweise haben wir die Chance, die durch die ererbten Genen abgesteckte Lebensspanne auszuschöpfen. Langlebigkeit kann aber auch von Nachteil sein, da sie die Wahrscheinlichkeit an Alzheimer und Krebs zu erkranken erhöht. Und nicht vergessen: Das kalendarische Alter hat wenig mit dem geistigen Alter gemein.

IMG_9460Der Autor: Prof. Dr. Peter Schönfeld, Mitglied des Magdeburger Professoren Kollegiums „emeritio“, studierte Chemie an der TU Dresden und wurde dort auch promoviert. Er habilitierte sich im Fachbereich Biochemie an der Medizinischen Fakultät der OvGU und wurde zum Hochschuldozenten ernannt. Seine Forschungsaktivitäten sind auf den Energiestoffwechsel der Zelle ausgerichtet.