Wurzeln greifen tief

artemisiaAn der Lübecker Straße in Magdeburg lädt eine griechische Familie ins Restaurant „ArtemisiA“ zum Speisen und Verweilen ein. Ioannis Bakalopoulos hat hier die Seele seiner Väter eingepflanzt. Eine Spurensuche nach den Wurzeln seiner Wesensart. Von Thomas Wischnewski

Ioannis Bakalopoulos zieren Lachfalten links und rechts der Mundwinkel und um die Augenpartie sieht man kleine Krähenfüßchen. Der 50-Jährige verfügt offenbar über ein sonniges Gemüt. Vielleicht lässt sich das auf seine Herkunft, dem sonnenreichen Griechenland, zurückführen. Grundsätzlich unterstellt man aus mitteleuropäischer Sicht den Südeuropäern ein besonders fröhliches Wesen und eine Art mediterraner Leichtigkeit des Seins. Jedenfalls begegnet Ioannis Bakalopoulos seinem Gegenüber mit einer sehr freundlichen und einladenden Ausstrahlung. Dabei hat er immer ein Lächeln aufgesetzt und das garniert er gern mit einem munteren Spruch.

Um seinen Phänotyp zu verstehen, muss man ganz sicher ein wenig seine persönlichen und familiären Wurzeln freilegen. Ohne einen Blick in die Tiefe zu wagen, wird man der daraus gewachsenen Persönlichkeit nicht näherkommen. Edessa, eine kleine Stadt mit knapp 29.000 Einwohnern im Bezirk Pella und der Region Zentralmakedonien zugehörig, nennt er seinen Geburtsort. Sein Großvater war hier mal Bürgermeister und Gastronom. Im Städtchen soll heute noch manches Bildnis des Vorfahren hängen, weil er einst armen Bürgern Land aus dem Allgemeingut zuteilte, damit sie auf dem Boden säen und ernten konnten. Edessa ist reich an Wasser. Die Wasserfälle von Edessa sind eine in ganz Griechenland und Europa einzigartige Attraktion. Vom größten Wasserfall namens „Karanos“ stürzen die Wassermassen 70 Meter in die Tiefe. Der Ort ist auf einem Felsen erbaut und strahlt Gastfreundschaft und Gemütlichkeit aus. Viele kleine Brücken führen über Bachläufe. Hier ist alles sehr Grün und Cafes laden an den Bachläufen zum Verweilen ein.

Konstantinos, der Vater von Ioannis Bakalopoulos, führt damals in Edessa wie der Großvater ein Restaurant. Auch die Mutter, Rodoklia, arbeitet hier. Mit 14 Jahren hilft Ioannis bereits im väterlichen Betrieb mit. Später lernt er hier die griechische Kochkunst. Zum Selbstverständnis einer griechischen Familie gehört es, in die Fußstapfen des Vaters zu steigen. Für den ältesten Sohn Ioannis war das selbstverständlich. Allerdings träumt er davon, irgendwann eine eigene Taverne zu eröffnen. 1987 sind die Zinsen in Griechenland exorbitant hoch. Ioannis zieht es nach Deutschland. In der niedersächsischen Hauptstadt Hannover nimmt er eine Stelle in einem Speiselokal an und hofft, bald an einen günstigen Kredit zukommen. Dann möchte zurück in die Heimat gehen. Doch eine Frau durchkreuzt den Plan. Ioannis verliebt sich 1988 in die Griechin Dino Panagio. Bald darauf heiratete das Paar und 1990 erblickt die Tochter Rodoklia das Licht der Welt. Die junge Familie muss nun versorgt werden. Und weil – wie es die Deutschen sagen – ein Schuster bei seinen Leisten bleiben sollte, eröffnet Ioannis im Hannoveraner Stadtteil Anderten das Restaurant „Panteon“.

Als 1992 auch noch der Sprößling Konstantinos geboren wird, sucht sein Vater nach neuen Chancen. Den beiden Kindern die Vornamen der griechischen Großeltern zu schenken, ist eine Verneigung Ioannis an seine Eltern und eine symbolische Geste dafür, die eigenen Wurzeln mitgenommen und neu gepflanzt zu haben. Die Familie Bakalopoulos verlegt 1993 ihren Lebensmittelpunkt von Hannover nach Haldensleben. Der Osten Deutschlands scheint vor 23 Jahren wie ein Experimentierfeld, wie eine in weiten Teilen unbearbeitete Landschaft. Hier ist noch Platz, um säen zu können, Neues aufzubauen und vielleicht Gelegenheit, sich am Gedeihen zu erfreuen. Haldensleben hat diese beschauliche Größe einer Kleinstadt und erinnert Ioannis ein wenig an die Übersichtlichkeit seines Heimatstädtchens Edessa. Die beiden Kinder gehen in der Kreisstadt bald zur Schule und das Restaurant „Oase“, das die Eltern unterhalten, sichert den Lebensunterhalt der Familie. Lebensunterhalt ist ein bedeutsames Wort für Ioannis Bakalopoulos, und er hat seine Definition dafür gefunden. „Ich brauche nicht viel“, sagt er. Das Geschäft muss laufen, die Familie versorgt sein und die Gäste nach einem Besuch zufrieden nach Hause gehen. Die Einsicht ist Ergebnis von Erfahrung. Die einstige Goldgräberstimmung und die Hoffnungen im Osten möglicherweise mehr erreichen zu können als im Westen, sind in der Realität untergegangen. Menschen, Mechanismen und Möglichkeiten sind irgendwie doch nicht so anders als in Hannover.

15 Jahre lang leben Dino und Ioannis Bakalopoulos mit ihren heranwachsenden Kindern in Haldensleben. Man fährt gemeinsam alle zwei Jahre nach Griechenland und besucht den Ort der Wurzeln und die Eltern. Noch einmal glaubt Ioannis an eine neue Chance und wagt unternehmerisch den Sprung von Haldensleben in die nahe Landeshauptstadt. Magdeburg ist eben größer. Mehr Menschen erzeugen mehr Bewegung und mehr Möglichkeiten. 2009 kann der damals 43-Jährige ein Restaurant an der Lübecker Straße, zwischen Neustädter Bahnhof und Mittagstraße übernehmen. Gegenüber befindet sich der Neustädter Friedhof. Übernahme klingt, als könne man sich ins gemachte Nest setzen, aber in Wahrheit ist es ein kompletter Neuanfang. Die Möblierung muss ausgetauscht werden und die Küche neu eingerichtet. Später entsteht hinter dem Haus eine Terrasse, auf der Gäste im Frühjahr und Sommer bewirtet werden.

Die griechische Familie Konstantinos, Dino und Ioannis Bakalopoulos (v.l.n.r.) haben 2009 mit ihrem Restaurant „ArtemisiA“ nach Stationen in Hannover und Haldensleben in Magdeburg Wurzeln geschlagen. Foto: Viktoria Kühne

Die griechische Familie Konstantinos, Dino und Ioannis Bakalopoulos (v.l.n.r.) haben 2009 mit ihrem Restaurant „ArtemisiA“ nach Stationen in Hannover und Haldensleben in Magdeburg Wurzeln geschlagen. Foto: Viktoria Kühne

Offensichtlich schmeckt es den Besuchern im Restaurant „ArtemisiA“. Das mag sicher an der Art liegen, wie der Chef die Speisen würzt, nämlich so gut wie gar nicht. „Der Geschmack kommt aus den Zutaten selbst. Es muss nichts künstlich verstärkt werden“, sagt Ioannis Bakalopoulos. Ganz wenig Salz, maximal eine Prise Pfeffer, ein Hauch Oregano und das Aroma von Oliven. Mehr brauche es nicht, um dem Geschmack der Speisen das I-Tüpfelchen einer besonderen Note zu verleihen. Hier mag sich der Spruch „weniger ist mehr“ zu bewahrheiten. Sieben Jahre Leben in Magdeburg sind in der Spanne von fünf Jahrzehnten Lebenszeit nicht lang. Dennoch haben sie ihre Wirkung und hinterlassen Spuren. Tochter und Sohn erwerben in der Elbestadt das Abi- tur. Konstantinos arbeitet im väterlichen Betrieb. Ioannis wünscht sich, dass sein Sohn das eigene Leben auf die väterlichen und familiären Wurzeln aufbauen würde. Das Fundament dafür hat er gelegt. Was Konstantinos daraus macht, liegt in dessen Händen. Bodenständigkeit ist ein Wert, den Ioannis sehr schätzt. Dass Kinder in die Welt ausziehen und damit ihre Wurzeln verlieren, findet er nicht gut.

Es mag Wehmut in dieser Überzeugung stecken, und vielleicht ist sie auch eine Folge der eigenen Erfahrungen. Ioannis Vater lebt nach wie vor in Edessa. Seine Mutter verstarb bereits vor ein paar Jahren. Seine jüngeren Geschwister sind ebenfalls auf der Balkanhalbinsel zu Hause. Kultur, Tradition und die tiefen emotionalen Wurzeln einer Familie gehören zur Seele eines Menschen. Deshalb hört Ioannis ausschließlich griechische Musik und hängt an den traditionellen Tänzen. Die Strahlkraft der griechischen Geschichte steckt in seiner Brust und trägt den Stolz über das eigene Volk.

Aber der lange Aufenthalt in Deutschland hat dem heute 50-jährigen Griechen auch Erfahrungen geschenkt, die ein Leben mit einem einzigen Lebensmittelpunkt nicht vermitteln können. Die Mentalität der Deutschen und ihre Sitten und Gebräuche erlebt er hautnah. Obwohl in seinen Kindern die Seele der griechischen Herkunft schwingt, haben sie ein eigenes Wesen entwickelt, eines, in dem die Bindungen zu Magdeburger Schulkameraden und Freunden eingewachsen ist. Und Ioannis Bakalopoulos erlebt auch Mentalitätsunterschiede zwischen Niedersachsen und dem Menschenschlag an der Elbe. Hierzulande seien die Leute irgendwie herzlicher und wärmer als beispielsweise in Hannover. Aus diesem Erleben heraus hat er den Wegzug aus dem Nachbarland nach Sachsen-Anhalt nie bereut. „Dort fühlte ich mich weniger zu Hause“, bekennt er.

Echte, tiefe Freundschaften zu Magdeburgern entstanden bisher nicht. Das mag einerseits an der Unmöglichkeit liegen, die eigene Verwurzelung auszureißen und die prägenden Eindrücke der Kindheit und Jugend abstreifen zu können und anderseits im Wirken solche Phänomen in der Seele nicht unvoreingenommen offen zu sein für eine anders schwingende Kultur. Doch es gibt etwas, dass die Kraft dieser emotionalen Bande überwindet. Und das entsteht im Alltag, im fortwährenden Tun. Als Gastwirt muss man ein herzlicher Mensch sein, einer, der ohne nachzudenken nicht nur seinen Dienst für andere leistet, sondern darüberhinaus über eine Sensibilität für seine Gäste verfügt. Jeder besitzt sicher eine rationale Vorstellung und ein pragmatisches Wissen, wie man mit Freundlichkeit auf andere zugeht, aber wie man die Seele eines Menschen berührt und ihr das Gefühl von Wärme und Behaglichkeit gibt, das steht in keinem Lehrbuch. Das vermittelt man nicht durch Unterweisung. So etwas schwingt in der Natur eines Menschen und findet seine Wurzeln beispielsweise im langen Weitertragen einer Familie. Großvater und Vater mögen bei Ioannis Bakalopoulos ihre Spuren hinterlassen haben. Die griechische Mentalität spielt eine Rolle und die vielfach sonnigeren Tage der Mittelmeersphäre können vielleicht einen Erklärungsansatz dafür liefern. Das einnehmende Lächeln, die griechische Leichtigkeit erscheinen wie ein Spiegel tiefer Wurzeln. Wenn der Funke zwischen ihm und einem Gast überspringt, wird aus dem Lächeln ein Lachen und aus distanzierter Ironie ein fröhlicher Schalk mit offener Herzlichkeit. Man muss sich aufeinander einlassen können, Wirt und Gast gleichermaßen. Ioannis besitzt dieses Bereitschaftspotenzial in seiner Wesensnatur. Sie verstärkt sich spürbar, wenn man ihm mit einer ähnlichen Leichtigkeit begegnen kann.