Die Debatte um Flüchtlinge gewinnt in ganz Deutschland vielfach an Schärfe. Nur wirkliche Lösungen werden darunter kaum erkennbar. Das spaltet die Gesellschaft.
Wir, die Deutschen, haben aus unserer Geschichte gelernt. Doch haben wir deshalb Anworten für die Zukunft?
Aktuell ist für jeden schwer zu verstehen, welche komplexen Ursachen unter den anschwellenden Flüchtlingsströmen liegen. Noch schwerer ist das Orakel darüber, mit welchen Auswirkungen die Massenbewegungen langfristig das Leben in Deutschland verändern werden. Das Geschehen produziert derzeit einen Aufschrei einer scheinbar wachsenden Gegnerschaft. Die Argumentation entwickelt eine Dynamik mit negativem Vorzeichen, die immer öfter in Hasstiraden mündet. Das Gegengewicht bildet eine große Schar an Flüchtlingsunterstützern, die ihrerseits die positiven Effekte der Entwicklung aufzeigen wollen.
Es findet derzeit ein Kampf der Losungen und Argumente statt, bei dem sich jede Seite von ihrer Sicht des Geschehens und dessen Folgen überzeugen will. Die Kritiker der Fluchtlingsströme nach Deutschland untermauern ihren Standpunkt mit immer neuen Beispielen negativer Auswirkungen, während die andere Seite mit Belegen für gelungene Integration und Hilfe aufwartet. Lösungen bietet der Wettstreit nicht. Fortdauernd zeigt die Debatte einen ausufernden Prozess sich verschärfender Frontlinien in den Köpfen. Es soll an dieser Stelle keine Wiederholung des inhaltlichen Disputs stattfinden, sondern die Mechanismen aufgezeigt sein, die sich darunter offenbaren. Jedem dürfte klar sein, dass der Gegenwind, der den Zustrom von Menschen begrenzen will, vorrangig aus Ängsten vor einen Wandel des bekannten Lebens resultiert. In seiner Zuspitzung treten innerhalb dieser sozial-psychologischen Verkettung nicht nur gemäßigte Ressertiments, sondern eben auch totale Ablehnung bis hin zu Hass und Rassismus zu Tage. Diese Erscheinungen werden in dem Maße zunehmen, wie die Verteidigung der moralischen Hilfsbereitschaft wächst. Es wird unter der Verschärfung der Auseinandersetzung keine reibungslose und friedfertige Integration und Zuwanderung geben, sondern eher eine weitere Spaltung der Gesellschaft.
Wäre die Flüchtlingsproblematik die einzige große Herausforderung dieser Zeit, könnte man die Entwicklung mit einer gewissen Gelassenheit beobachten. Doch ist die Gemeinschaft mittlerweile mit derart vielen Konflikten großer Tragweite beladen, dass ein anderdauernder Zustrom das Zeug hat, die Deutschen entscheidend aus der Balance zu bringen. Neben ungeplant und offensichtlich nicht weiter vorhersehbaren Flüchtlingsentwicklungen, schwelt in der Ukraine weiterhin ein Brandherd, an dem Weltmachtinteressen zündeln. Der unberrschbare Terror im Nahen Osten mit einem sich ausdehnenden „Islamischen Staat“ birgt ebenfalls so viel Sprengstoff, dass niemand vorhersagen kann, wann und wie eine Befriedung der Region möglich ist. Parallel dazu zeigt sich eine zunehmende Instabilität der Finanzmärkte. Insbesondere China kann derzeit kaum Ruhe in den Aktienmarkt bringen. Die Erschütterungen sind längst auf anderen Kontinenten zu spüren und Finanzexperten prophezeihen die Gefahr eine erneuten Weltfinanzkrise, die tiefere Risse hinterlassen könnte als 2008. Gleichzeitig sinkt in Europa unter dem Abwärtstaumel der Griechen das Vertrauen gegenüber den Rezepten der politischen Hauptakteuere.
Obwohl die deutsche Wirtschaft die besten Kennziffern seit Jahren schreibt, die Anzahl sozialversicherungspflichtiger Jobs neue Höchststände erreicht und die Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Kommunen ebenfalls Rekorde aufweisen, öffnet sich andererseits weiter die Schere zwischen Armut und Reichtum im Land. Eine gerade veröffentlichte Statistik untermauert, dass die Deutschen im Durchschnitt rund 20.000 Euro Netto-Vermögen pro Haushalt in den Jahren von 2003 bis 2013 eingebüßt haben. Nun ist diese Einbuße nicht in den hohen Einkommen zu finden, sondern ein Ausdruck dafür, dass vor allem die kleinen Leute immer weniger oder gar keine Rücklagen mehr anhäufen können.
Die Flüchtlingsproblematik ist also nur der unmittelbar sichtbarste Bereich, weil das Ringen um Unterkünfte und Unterstützung mittlerweile vor jeder Haustür diskutiert und bewältigt wird. Die einseitig und angstverbreitenden Hasstiraden gegen alles Fremde sind allerdings genauso ungerecht, wie die beschwichtigenden Gutmeinungen. Jeder stellt jeden in eine Ecke und gegenseitig zeigt man mit dem Finger auf den anderen. In dieser Entwicklung drückt sich die ganze Ohnmacht der Gesellschaft aus, adäquate Lösungen und Balance zu finden. Mündet das Geschehen nicht bald einen rückläufigen Trend, werden Gewaltbereitschaft und gewaltsame Übergriffe zunehmen. Die Politik mag über das Gesamtszenario noch so sehr mit Appellen an Menschlichkeit, Gewissen und Verantwortung reagieren, sie kommt damit scheinbar bei immer weniger Menschen an. Verweise auf das wirtschaftlich starke und reiche Deutschland mag der einer existenziell abgesicherten Klientel vermittelbar sein, aber nicht jenen, die täglich Ängste um Job und Zukunft umtreiben. Die Losung „die mächtigen Deutschen werden das schon schaffen“ verhallt hier weitestgehend. Da vor allem in den ostdeutschen Ländern mehr Menschen arbeitssuchend sind und die Zahl derer höher ist, die ohnehin auf Unterstützung der Gemeinheit angewiesen sind, mag die Suche nach Besonderheiten in der ablehnenden Gesinnung von zuströmenden Fremden eher hilflos daherkommen. Die Suche nach solcherlei Belegen führt mit Sicherheit zu noch mehr Rückzug von Hilfsbereitschaft. In der letzten Augustwoche werden im Heide-Camp Colbitz 120 Flüchtlinge aufgenommen. Die Gemüter bei den Bewohner der umliegenden Orte sind bereits erhitzt. Dort schaut man wiederrum aus Ängsten auf das zuständige Polizeirevier in Wolmirstedt. Das verfügt für den gesamten, relativ großflächigen Einsatzbereich nur über vier Streifenwagen. Beruhigung stellt sich unter diesen Voraussetzung bei den Bürgern nicht ein. Vor Ort geht es nicht mehr darum, wie viele Flüchtlinge man aufnehmen kann, sondern um Verlustängste im eigenen Dasein. Selbst eine Richterin, die aufgeschlossen und hilfsbereit erscheinen möchte, will Fremde aber nicht zu dicht am eigenen Lebensraum wissen.
Menschen haben schon immer gelernt mit anderen zu leben. Dafür ist die gesamte Menschheitsgeschichte ein Beleg. Noch jede Generation hatte Angst vor der ungewissen Zukunft. Das gehört zum Leben. Doch in einem gesellschaftlichen Umfeld relativer Sicherheit in den existenziellen Lebensbedingungen tritt die Furcht vor kommenden Zeiten in den Hintergrund. Die Muster, die aktuell sichtbar werden – in der Politik, im Verhalten von Einzelnen oder Gruppen – könnten in der Tiefe ihrer Mechanismen mit längst vergangenen Zeiten verglichen werden. Auch wenn das abwegig klingt. Die ohnehin schon erhitzte Debatte wird zugespitzter geführt werden, weil sich keine Seite von der anderen verstanden fühlt. Innerhalb dieser Konfliktspirale schlummert entsetzlich viel Potenzial für die Freisetzung sich verschärfender Auseinandersetzungen. Es wäre angenehmer, solche Gedanken nicht folgen zu müssen. Wer jedoch davor die Augen verschließt, muss die damit einhergehende Ohnmacht in Kauf nehmen.
Parteien, Parlamente und alle sich in die gesellschaftliche Debatte einbringenden Kräfte müssen sich mit neuen, gesamtgesellschaftlichen Visionen und Lösungsangeboten beschäftigen. Die altbekannten Ansätze steuern nicht mehr mit derselben Energie wie in den vergangenen Jahrzehnten eines prosperierenden Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Sicher wird im gesamten Ausmaß weltweiter Konflike auch eine tiefe Krise des kapitalistischen Wirtschaftssystems sichtbar. Das gelobte Allheilmittel Wachstum befreit die Menschheit mehrheitlich nicht von Kriegen, Hunger und Ausgrenzung, so weit man das von hier aus beurteilen kann. Die Wachstumsdroge hat sich derart tief in unser Bewusstsein eingebrannt, dass jedes kleinste Indiz, das vermitteln könnte, künftig bleibe noch weniger für den Einzelnen übrig, viele ein Suchtverhalten an den Tag legen und jammern lässt, als würden sie dem Hungertod nahe sein.
Fakt ist, dass in allem, was gerade läuft, viele Menschen keine Antwort für ihre Zukunft finden. Die Bundesregierung ruft nach einer europäischen Lösung, während hierzulande die Sehnsucht wächst, eine vor der Haustür sehen zu wollen. Hierin äußert sich auch der anschwellende Ruf nach nationalen, deutschen Alleingängen. Die Länder der Europäischen Union mögen eine große politische und wirtschaftliche Kraft darstellen, und dennoch kommen sie in den Griechenlandfragen nicht weiter, geschweige denn, dass es in den umfassenden und komplizierten Weltereignissen Bewegung zu Befriedung und Aufschwung gäbe. Im Geiste haben wir aus unserer Geschichte gelernt und wollen nie wieder Zustände von Feindlichkeit und Hass zulassen. Doch angemessene Antworten für die Zukunft können wir deshalb noch lange nicht geben.
Thomas Wischnewski