Der gefangene Geist

two armchairs and two lamps at the fireplace

Eine Wolke aus Tabakqualm hüllte den grauhaarigen Kopf von Clemens Weinstein ein und der alte Herr ließ einen Seufzer von der Art entweichen, als würde die ganze Welt darunter erklärt sein. Der Wissenschaftler pflegte seine Rituale. Der Genuss einer Zigarre zur Abendstunde gehörte dazu. Weinstein klappte das Buch auf seinen Oberschenkeln zu, legte die Hände auf den Einband und verharrte nachdenklich in seinem Lesesessel. Draußen waren unruhige Zeiten aufgezogen. Das Arbeitszimmer des Professors war hingegen ein Ort der Abgeschiedenheit und Konzentration. Hier war alles frei von hektischen Nachrichten. Stille herrschte. Aufrührerischen Gedanken begegnete man hier maximal in Büchern. Tausend breite Buchrücken waren das Gefängnis einer geistigen Unruhe, das man beim Lesen darin zeitweilig öffnete. Dr. Josef Reichenbach, ein langjähriger Weggefährte Weinsteins, war auf ein Plauderstündchen zu Besuch erschienen und hatte im Sessel gegenüber geduldig darauf gewartet, dass ihm der alte Gesprächsfreund Aufmerksamkeit schenken würde. Nun kam ihm die Gelegenheit günstig vor, eine Frage zu stellen: „Wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken, existiert da der Gedanke, manches anders gemacht haben zu wollen?“

Weinstein nahm einen langen Zug an seiner Zigarre und pustete den Qualm aus gespitzten Lippen bedächtig in die Luft. Dann entgegnete er: „Josef, wollen sie mit Ihrer Frage die Stille verjagen?“ „Die Frage sollte erlaubt sein. Sie haben ein beachtliches Alter erreicht, schauen auf ein langes und bewegtes Leben und Ihre Erfahrung versetzt Sie in die Lage, heute manches anders als früher sehen zu können.“ Reichenbach kannte seinen Professor lange genug, um zu wissen, dass der mit einer banalen Phrase aus der Reserve gelockt werden konnte. Auf diese Weise entfachte er schon oft einen Dialog, der beiden eine ausschweifende Diskussion beschert hatte. Doch Weinstein ruhte in weiser Schweigsamkeit, hielt die Lider gesenkt und stieß Zug um Zug seiner Zigarre aus, als würde er noch Stunden lang dasitzen können und alles um ihn herum wäre außerhalb jeglichen Interesses. Doch dann sprach er mitten in Reichenbachs Warten: „Wenn mir jemand vorher hätte sagen können, wie das Leben werden würde, hätte ich gar nicht leben wollen.“ Der Satz war weniger eine Antwort auf Reichenbachs Frage, sondern vielmehr Keim eines ganzen Weltbildes, eines philosophischen Gebäudes, in dem Weinstein wandelnd wie ein Bibliothekar Nachschlagewerke aus Regalreihen ziehen konnte. Als könnten Weinsteins vertraut gemachte Wissensschätze alles beantworten, wusste der Freund, dass sein Gegenüber längst dabei war, ein Vortragskonzept zu entwerfen, das er sogleich auszubreiten beginnen würde.

„Das klingt sehr destruktiv, Clemens. Ist Ihre Lebenseinsicht jetzt zu einer großen Verneinung mutiert?“ Reichenbach fragte und nippte am Weinglas. Ein guter Rotwein gehörte an solchen Redeabenden zu beiderseitigem Genuss.

„Was glauben Sie, Josef, wie viel Bedeutung Zukunft hat, wenn sich deren Inhalt aus morgen speist, aber das Übermorgen schon das Ende jeder Zukunft sein kann? Sie sind mit 65 Jahren ein junger Kerl im Vergleich zu meinen Erdentagen. Auch wenn niemand von uns weiß, wann der Schlussakkord angeschlagen wird, spielt man keine Ouvertüre mehr. In der Frist unseres Seins wiegt die Vergangenheit irgendwann schwer. Es gibt keine Balance zwischen gestern und morgen. Das ist der Lauf der Dinge.“ Der Professor richtete sich auf, nahm ebenfalls sein Weinglas in die Hand und gönnte sich einen guten Schluck.

„Mein lieber Weinstein, ich hatte nicht vor, Sie mit düsteren Gedanken zu belegen.“ Doktor Reichenbach wollte die gedankenschwere Düsternis wenden, die er an einem geistigen Horizont aufziehen sah. Aber der alte Gefährte wollte sich gar nicht umstimmen lassen und sagte: „Lassen Sie uns ruhig über die Gefangenschaft des Geistes reden, aus der wir uns so gern befreien wollen.“ „Was für ein Einwand? Der gefangene Geist! Die Gedanken sind frei, möchte ich Ihnen entgegenhalten“, trumpfte Reichenbach regelrecht enthusiastisch auf und glaubte mit der Entgegnung, einen Stimmungsaufheller gezündet zu haben.

„Der Verstand führt uns in manche Irre, wenn nicht gar in jede. Der Irrtum ist absolut, nicht die Erkenntnis.“

„Sie bereiten mir Sorge, Clemens. Noch immer haben Sie Hoffnung gesehen, Auswege und Möglichkeiten. Plötzlich reden Sie, als wäre das Leben eine chancenlose Veranstaltung.“

Weinstein lehnte sich tief in seinen Sessel zurück und sprach: „In den letzten Monaten habe ich viel darüber nachgedacht, warum wir Menschen uns im Geiste über das Leben hinaus begreifen wollen. Das Leben nach dem Tod, Gottes Reich, in das wir aufsteigen wollen, Wiedergeburt, Jenseits – egal wie wir die Dinge nennen – jeder schweift irgendwann in die Sphäre eines Danach ab, und sei es, Spuren hinterlassen zu wollen oder der Nachwelt erhalten zu bleiben. Dabei ist mir bewusstgeworden, dass man das Leben als eine geistige Gefangenschaft zwischen Geburt und Tod begreifen muss. Über jede Begrenzung – wenn Sie in einen Raum eingesperrt oder anderweitig in der Bewegung eingeschränkt wären – immer denken Sie sich unweigerlich über Grenzen hinweg. Das Begreifen von Endlichkeit ist die Quelle, sich darüber erheben zu wollen. Erst die Grenze gebiert den Wunsch, sie zu überwinden.“

Josef Reichenbach unterbrach den Professor: „Da breiten Sie ein großes Thema aus, mit dem jeder selbst seinen Frieden machen muss. Ich glaube nicht, dass man dafür eine abschließende Antwort finden und ein alles erklärendes Gedankengebäude errichten kann.“ „Das ist nicht meine Absicht. Ich will Ihren Geist öffnen und nicht mit einer Antwort begrenzen, unter der Sie keine Ruhe fänden. Meinen Frieden habe ich gemacht. Wenn ich Sie heute daran teilhaben lassen möchte, müssen Sie in der vor Ihnen liegenden Zeit nicht so viel gedanklich umherirren, mein Freund.“

Josef Reichenbach nahm einen weiteren Schluck Rotwein, und man hätte vermuten wollen, die Wirkung des Alkohols sollte den Rausch verstärken, den er augenblicklich unter Weinsteins Worten verspürt hatte. „Muss ich Ihnen für diese Teilhabe gar dankbar sein?“, fragte er.

„Festhalten müssen Sie sich, Josef, gut festhalten. Ich könnte Ihnen den Boden unter den Füßen wegreißen, nicht etwa damit Sie fielen, sondern damit Sie schwebten und befreiter von den geistigen Gefängnissen unserer Zeit wären.“ Während sich der Professor dem Genuss seines Weines widmete, grübelte Reichenbach. Er gestand sich ein, dass ihm der Forscherkollege selten so viel Neugier entfacht hatte wie in diesem Augenblick.

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„Wissen Sie, Reichenbach, die Menschheit stellte mit Beginn ihres Denkens Fragen nach dem Sinn in allem. Spiritualität, Götter und Religionen halten für all das her, was außerhalb unseres Begreifens liegt. Ich bin fest davon überzeugt, dass das Menschheitsproblem etwas mit unserem kausalen Denken zu tun hat. Wir brauchen diese Ursache-Wirkungs-Abfolge. Das ist quasi unser Koordinatensys-tem, unsere Beobachterposition. Doch schon das Wort Anfang führt uns in die Irre. Ohne Anfang kein Ende. Unser Denkgefängnis sind Zeit und Raum. Einstein hat mit der Relativierung zwar ein Fenster geöffnet, aber andere suchen indes stur weiter, was war davor oder was kommt nach allem? Das sind alles nur begriffliche Phänomene, hilflose Modelle unseres Verstandes. Wie will man etwas denken, für das es keine Begriffe gibt? Und haben wir einen neuen erfunden, bleibt Wörtliches wiederum nur vergeistigte Materie.

Reichenbrach unterbrach Weinsteins Rede: „Mit Mathematik.“ „Ich wusste, dass Sie dies einwenden würden. Aber alles Mathematische ist ebenso nur eine Abstraktionsmöglichkeit unseres Verstandes.“

„Moment mal, überall in der Natur finden wir Bestätigung mathematischer Beschreibungen. Sie stellen die gesamte Wissenschaft infrage“, wendete Reichenbach ein.

„Nein, mein Lieber, das tue ich nicht. Ich gebe nur zu bedenken, dass wir mit dem sinnlichen Ursprung unseres Denkens und die Art zu kommunizieren, zu abstrahieren und zu erklären, uns nicht über den Verstand selbst erheben können. Unter der Wissenschaft mit ihren Erkenntnischancen sind wir zum Schöpfer einer eigenen Welt geworden, einer produktiven wie spirituellen. Nur außerhalb des Menschseins findet keine noch so wundervolle Erfindung oder Erkenntnis eine Bedeutung. Verstehen Sie? Man könnte sagen: Bedeutung ist ein rein an unseren Geist gebundener Illusionsstoff.“ „Das ist nun nichts Neues, Professor.“

„Stellen Sie über alles den Satz: Sprache ist ein ganz brauchbares Surrogat für das menschliche Selbstverständnis. Sie taugt jedoch nicht für eine Erklärung außermenschlicher Erscheinungen.“

Reichenbach widersprach: „Es gibt tausendfache experimentelle Beweise und Naturgesetze. Das wollen Sie doch nicht ignorieren?“

„Keinesfalls bestreite ich, was unserem Geist entspringt. Schon gar nicht die Erkenntnis, die er über die Natur findet. Es geht mir um die zwanghafte Vorstellung, dass wir etwas in unserem Geist erzeugen könnten, was über dessen Grenzen hinausreichen würde“, konterte Weinstein.

„So, so“, sagte der Doktor, „das sollte wohl dann die Sphäre des Religiösen sein.“

„Ach, Reichenbach, stellen Sie sich nicht so an. Jede Religion, jeder Gott ist ein Erzeugnis unseres Kausalitätskäfigs. Das ist doch das Dilemma. Selbst alles Spirituelle quetschen wir in die Vorstellung von Anfang und Ende, von Ursprung und in die Folgen für unser Sein und Nichtsein. Mit der Quantentheorie verlässt die Wissenschaft erstmals den festen Boden von Ursache und Wirkung. Hier nutzt man die Begriffe Potenziale und Wahrscheinlichkeit. Nochmal: Die Krise des menschlichen Geistes begann in dem Moment, als er in der Lage war, seine eigentliche Endlichkeit zu begreifen. Seither versucht sich der Geist über das Leben hinaus zu denken. Und immer bleibt er dabei in Kausalitäten gefangen. So nutzen die Menschen ihre Erkenntnisfähigkeit, um die Frist der eigenen Existenz zu verschieben und begründen, oder sagen wir beschleunigen, damit gleichsam ihren Untergang. Die Natur ist nichts weiter als eine Matrix unendlicher Wahrscheinlichkeiten. – An dieser Stelle sollten Sie einmal versuchen, Unendlichkeit fassbar zu machen. Damit meine ich jetzt keine mathematische Symbolik oder eine weitschweifende literarische Beschreibung. Es geht nicht, Josef. Kommen Sie mir nicht mit Formeln und Zahlenreihen! Das Wort Unendlichkeit spiegelt uns nur vor, als könnten wir etwas, was außerhalb unseres Bezugsystems liegt. Irgendwann wird jede Möglichkeit möglich und so möglich diese einerseits ist, so unmöglich ist sie andererseits. Wissen Sie was das heißt? Je mehr eine natürliche Komplexität einer Möglichkeit einen Selbsterhaltungstrieb entwickelt, umso unmöglicher macht sie sich selbst im Spiel der universellen Varianten. Die Grenzen unseres Verstandes manifestieren sich in der Vorstellung, wir könnten uns alles vorstellen. Wir wissen gar nicht, was vorstellbar ist. Diese Einbildung ist unser Versagen. Tröstlich ist einzig die Einsicht, dass wir in die Ewigkeit der Möglichkeiten zurückkehren. Einmal war jeder möglich. Verstehen Sie mich? Sie und ich sind im Grunde genommen eine Unmöglichkeit ewiger Möglichkeiten. Das ist die wahre Definition von Individualität. Wir ziehen für uns und durch uns eine Grenze im unerschöpflichen Webstoff des Universums. Und nur diese selbstdefinierte Grenze hebt uns für den Augenblick unseres Seins ab vom unaufhörlichen Fluss, vom Auf und Ab, vom Wechsel im Werden und Vergehen. Es existiert dafür keine Zeit, keine Frist oder irgendetwas, was mit unserem Begreifen von Anfang und Ende zu tun hat. Alles ist immer und zugleich nichts und damit fortwährend ewig. Unser Leben oder das, was wir dafür halten, ist nur eine interpretierte Pause der Ewigkeit. Wir haben in den Grenzen unserer Möglichkeiten ein Licht entfacht, das nichts anderes ist, als was ohnehin nicht existent und doch vorhanden ist. Das Licht sieht sich für einen Moment selbst. Nur, dass Licht keinen Wunsch entwickelt, sich selbst erkennen zu wollen. Es ist nur im Rahmen der Möglichkeiten passiert. Denken Sie, was sie wollen, aber was Sie wollen ist nichts, was mit Ihnen selbst zu tun hat, mit einem tieferen Sinn, einer Bedeutung für Ihre Existenz. Transponieren Sie sich ruhig weiter in die Vorstellung einer höheren Ebene, weil es nichts Höheres geben kann als die unendliche Unergründlichkeit, die alles ist. Wir sind nichts als die höchste Tiefe an Möglichkeiten. Denken Sie nicht so viel darüber nach, weil jeder Gedanke Sie einsperrt und vom Ursprung der Ewigkeit fortführt. Sie wollen Ewigkeit und sind es selbst. Als ob der Mensch etwas über sich selbst hinausbauen könnte, was er ist. Sie wollen das Paradoxon ihrer möglichen Unmöglichkeiten nicht annehmen. Darin ist alles Suchen, alles Forschen und Denken, jeder Traum und alle Fantasie. Wenn wir uns umdrehen, blicken wir eigentlich nach vorn; nicht, weil wir zurückblicken wollten, sondern weil die Richtung des Weges ohne seinen Anfang nicht zu bestimmen gewesen wäre. Alle Antworten zu den Fragen des Lebens kommen aus uns selbst.“ Clemens Weinstein nahm den letzten Schluck aus dem Weinglas.

„Ich weiß nicht, mir erscheint das alles sehr fatalistisch.“ Reichenbach sagte nur diesen Satz und versank in Nachdenklichkeit.

„Ja mein Freund, Fatalismus ist auch so ein Begriff, der uns auf die Gefangenschaft unseres Geistes hinweist.“

Josef Reichenbach blickte starr vor sich hin. Den Wortschwall seines Gegenübers konnte er zunächst nicht in einen geordneten, gedanklichen Zusammenhang bringen. Also schwieg er. Professor Clemens Weinstein betrachtete seinen Gesprächspartner aufmerksam und überlegte wohl, ob er seinen Erklärungen weitere untersetzende hinterherschicken sollte. Seine Entscheidung fiel anders aus. „Ich habe alles ausführlich aufgeschrieben. Reichenbach, Ihnen überreiche ich mein gedankliches Vermächtnis. In diesem Band ist alles niedergelegt. Vertiefen Sie sich in Ruhe in die Materie und werten Sie meine Schlussfolgerungen selbst. Entscheiden Sie, was zu tun ist. Sie können das Werk vernichten oder anderen zugänglich machen“, sagte Weinstein.

„Natürlich müssen das andere lesen“, stammelte Reichenbach. „Vermeiden Sie meinetwegen Schmeicheleien. Ich bin nur ein alter, komischer Kauz mit krausen Gedanken. Wichtig ist nicht, was ich denke, sondern nur, was andere in meinem Geschreibsel begreifen wollen. Gehen Sie jetzt. Um Himmelswillen gehen Sie endlich und starren Sie kein Loch ins Universum, sonst beginne ich am Ende noch, an den eigenen Theorien zu zweifeln“. Weinstein hatte Reichenbach ein in Leder gebundenes Buch in die Hand gedrückt. Dann legte er seinen Arm um dessen Schulter und gab ihm den Impuls, sich in Richtung Tür zu bewegen. Thomas Wischnewski