Wer sind Sie denn? Wo ist Papa?

Das Leben ist manchmal Lachen und Weinen zugleich. Man erkennt bei vertrauten Menschen kleine Veränderungen erst spät … und dann peu á peu. Zumal bestimmte Wunderlichkeiten einem schon bekannt vorkommen. Sie breiten sich nämlich schleichend aus. Genauso, wie die ihnen zugrunde liegende Krankheit. Diese führt dann zu Gedächtnis- und Sprachausfällen.

Ich bin kein Mediziner oder Wissenschaftlicher. Deshalb kann ich hier nicht die Arten der Demenz analysieren. Aber ich spürte, dass sich auch mein Leben veränderte. Aus Zuneigung musste ich viel mehr Zeit aufwenden, Verantwortung übernehmen, ja auch schmerzliche Entscheidungen treffen. Und ich konnte Liebe zurückgeben.

Meine Mutter Gitti wurde in den 20er Jahren geboren. Sie lebte fast 40 Lenze länger als mein Vater. Sie blieb allein und hatte uns drei Jungs wunderbar erzogen. Wir hatten alle eigene Familien / Partner, sahen uns reglmäßig, aber nicht sehr oft. Mutter arbeitet lange, war agil und hatte Hobbys wie Wander- und Zeichengruppen. Als sie 79 Jahre alt wurde, stand eine schwere Operation mit Vollnarkose an.

Danach erschien sie uns ,etwas aufgelöster’. Naja, das ist die Zeit, dachten wir Brüder. Es war 2001: Terroristen hatten das World-Trade-Center in New York zerstört. Alle Welt sah fern. Muttis TV-Gerät lief aber ganze Nächte lang mit voller Lautstärke, berschwerten sich Nachbarn im Wohnblock. – Also besuchte auch ich, der in einem anderen Bundesland arbeitete, sie jetzt öfter in Magdeburg.

Ich machte sie auf eine Sasucen-Fleck im roten T-Shirt aufmerksam. „Werde ich wechseln“, versprach Gitti. Tags darauf war sie im gleichen Shirt mit selben Fleck unterwegs. „Ich kann gar keine anderen Anziehsachen mehr finden“, offenbarte sie, warum sie immer neue T-Shirts kaufe. In ihrem Schlafzimmer fand ich dutzende getragene Pullover, Röcke, Hosen … vor dem Schrank mit den ,guten Kleidern’. Diese versperrten die Türen. Also bestückte ich ihren Waschautomaten. 15 Minuten später war er ausgeschaltet. „Du verbrauchst zuviel Strom und Wasser“, empörte sie sich und wollte auf dem Gasherd einen kleinen Topf mit Wasser voll Unterwäsche aufsetzen.

Wir sahen uns bald wieder. Gitti erschien mir gesund, aber ihre ganze Wohnung stand voll Wein. Laut Vertrag schickte man ihr wöchentlich sechs Flaschen zu, von denen sie nicht eine trank. Außerdem lag neben ihrem Festnetztelefon ein nagelneues Handy. Umgehen konnte sie damit nicht, zahlte aber 30 DM monatlich dafür. „Super-günstig“ könne sie später mit Bruder Günther sprechen, lautete ihre Begründung. Ihn hatte sie bis vor der OP wöchtlich per Bus im Heimatort besucht. Vorbei, für immer: „Die tuscheln dort, ich sei keine Jungfrau mehr!“ gab sie obskur von sich. Was? Hallo, du bist Mutter von drei Söhnen! Ich fand Briefe ihrer Ärztin. Sie war aufgefordert mit verschriebenen Medikamenten zur Untersuchung zu kommen. „Frau Gitti legte mir nur Jenapharm Tabletten vor, die 1969 abgelaufen waren“, sagte die Medizinerin. Sie wies Mutter zur Demenz-Untersuchung in die Pfeifferschen Stiftungen ein.

Dort erklärte man uns Brüdern, dass unsere Mutter in einem Pflegeheim wohnen sollte. „Ihr wollt mich doch nicht wegsperren“, weinte Gitti. – Uns brach es fast das Herz. Wir grübelten. Ihre Kommunikationsfähigkeiten erschien uns noch gut. Sie besuchte zwar ganz selten noch Freunde, aber Einkaufscenter in der Stadt fast täglich. – Dann traf die Sozialarbeiterin mit ihrer Logik unsere Hirne: Gitti brauche Regelmäßigkeiten und Pflege. Sie muss vom Altagsstress um Wohnen, Bekleidung und Hygiene befreit werden. Pünklich soll jetzt der Allttag verlaufen mit Essen, Medikamenten, Bädern und mehr. Und dann die klare Frage: „Ihre Mutter geht mit über 80 den Weg vom Spätherbst zum Winter. Sie drei sind 25 und mehr Jahre jünger und haben bestimmt noch einiges vor. Wer von ihnen gibt jetzt seinen Beruf auf und ist ab sofort der Ganztagsbetreuer der Mutter …?“

Gitti hatte sich bald in ihre neue Gemeinschaft eingelebt. Sie genoss Tanz-, Bastell- und Spielnachmittage … Einmal lief sie noch aus der Senioren-Residenz fort … aber nur etwa einen Kilometer bis zum Ortschild der Heimatstadt. Dort pflückte sie Blumen und Band einen Haarkranz. Als wir sie bald fanden, sagte sie glücklich: „Na da seid ihr ja. Es gibt doch gleich Abendbrot.“

Demenzkranke verlieren später auch die Erinnerung an Menschen und Namen. Die Jugendeindrücke bleiben am längsten wach. Gitti kam aus einfachen Verhältnissen. „In den Magen kannst keiner schauen, aber gut angezogen solltest Du sein“, lautete ein Sinnspruch ihrer Familie.

Anfangs humpelte sie im Heim etwas und wir machten uns sorgen. Bis wir herausfanden, dass sie öfter Kuchenlöffel in die Socken steckte. „Die sind hier alle so reich und haben auch Silberbesteck für mich“, begründete sie ihre elsternhafte Stiebitzerei.

Die Krankheit verläuft in Plateauphasen: der Zustand bleibt einige Zeit stabil, nimmt dann wieder ab. Irgendwann beherrschte Gitti die Regeln ihres Liebslingsspieles Halma nicht mehr. Sie kippte alle Figuren um, sagte, wir würden nur meckern und spielte nie mehr. Als Mutter unsere Namen nicht mehr wußte, vereinnahmte sie uns mit der Begrüßungfrage: „Sind wir nicht feine Leute?“ Später fragte nur noch: „Wer sind sie denn? Und wo ist eigentlich mein Papa?“ Einmal reagierte völlig falsch und sagte, das er tot sei. Sie weinte. Später freute sie sich immer über meine Antwort: „Vater ist noch auf Arbeit. Er kommt gleich.“

Gitti lebte neun Jahre im Heim. Bis fast zuletzt sang sie mit uns Lieblingslieder aus Ufa-Filmen ihrer Jugend wie „Oh Donna Clara, ich hab Dich tanzen geseh’n“ … Nach einer letzten Operation konnte sie nicht mehr sprechen. Aber sie wartete mit wachen Augen bis zum letzten Tag auf uns. Ich tupfte Schweiß von ihrer Stirn, streichelte und küsste sie. Dabei erzählte ich ihr, welch erfülltes Leben sie mit ihrer großen Liebe, drei Söhnen, Beruf und Hobbys hatte. „Du gehst jetzt vor, wir kommen bald nach!“ versprach ich und sie atmete nur noch einmal aus … Otto Fischer