Ab nächster Saison soll der Videobeweis im Fußball weltweit getestet
werden. Beim FCM kann man sich mit der sich abzeichnenden Entwicklung durchaus anfreunden.
Von Rudi Bartlitz
Inmitten der Wirren der letzten Wochen um das FIFA-Desaster und die Wahl eines neuen Oberaufsehers des korrupten Fußball-Weltverbandes ist eine fulminante Entscheidung im Kicker-Wesen ein wenig an den Rand geraten: Die FIFA-Regelhüter haben einer Testphase für den Videobeweis zugestimmt. Für die beliebteste und weitverbreitetste Sportart des Erdballs bedeutet dies nichts Geringeres als – Grünes Licht für eine Revolution. Denn: Jahrzehntelang hatte sich der als erzkonservativ verschriene International Football Association Board (IFAB) gegen Eingriffe in das festgefügte Regelwerk gesperrt, heißt: gegen die Nutzung technischer Möglichkeiten. Dabei konnte man sich der lebhaften Unterstützung diverser Präsidenten der FIFA, von kontinentalen Vereinigungen wie auch der einflussreichsten nationalen Verbände sicher sein. Immer wieder hieß es, gerade das Beharren auf im Grunde fast einhundert Jahre unveränderten Regeln mache weltweit die Faszination des Fußballs aus.
Damit ist es nun vorbei. Plötzlich ging es ganz schnell. Erst die Einführung der Torlinientechnik, nun die Testphase für den Videobeweis. Von der Saison 2017/2018 an sollen endlich strittige Tor- und Strafraumszenen in Tateinheit mit fragwürdigen Roten Karten auf den Prüfstand der Technik kommen. Eigentlich nur konsequent, sollte man meinen, denn das Spielfeld wird ja auch nicht mehr mit Fackeln beleuchtet. Noch kurioser: Jeder im Stadion kann auf seinem Smartphone heute spätestens zehn Sekunden nach einem grauenhaften Fehlentscheid sehen, wie es wirklich war. Nur einer nicht, der Referee, der tumbe Tor, der schaut ratlos drein, dem sind die Hände gebunden.
Selbst wenn noch nicht feststeht, wie die Versuchsphase genau aussehen wird, weil einfach Erfahrungen fehlen, eines scheint bereits heute sicher zu sein: Ein Zurück wird es nicht mehr geben. Über Schicksale und Völkerfreundschaften entscheidet bald nicht mehr allein eine uralte Instanz, ein herrischer Mann mit einer Pfeife im Mund. Zwei Methoden sollen, so hört man, vielleicht schon erstmals im Sommer bei der „Copa America“ in den USA getestet werden. Einfach gesagt, könnte es so aussehen: Entweder die Entscheidungsgewalt bleibt grundsätzlich bei den Referees, und eine Art Ober- oder Videoschiedsrichter schaut sich eine strittige Szene noch einmal genauer auf dem Bildschirm an. Andere Möglichkeit: Die Teams erhalten ein sogenanntes Challenge-Recht, das heißt, sie können (ein-, zwei- oder dreimal pro Halbzeit) beantragen, dass eine Szene noch einmal genauer angeschaut wird.
Und der deutsche Fußball, gewöhnlich eher vorsichtig im Umgang mit allem Neuen und lange als dunkler, tendenziell irrer Romantiker des Spiels mit dem Lederball angesehen, schreitet munter mit voran. Der DFB mit der ersten Bundesliga hat sich sogar als Proband angeboten. In der ersten Saison – das wäre dann von der nächsten Spielzeit an – soll dieses Testverfahren hierzulande noch im Off-line-Modus laufen, was bedeutet, dass sich für Spieler, Trainer, Schiedsrichter und Zuschauer erst einmal nichts ändert. „Wir müssen Erfahrungen sammeln“, sagt Herbert Fandel, der Vorsitzende der DFB-Schiedsrichter-Kommission, „und wir können beispielsweise auch vom Hockey lernen.“ Denn dort hat man, genauso wie beim Eishockey, American Football, Rugby, Volleyball, Basketball, Kanu, Ski alpin, Ringen und weiteren Sportarten überwiegend positive Erfahrungen mit dem Videobeweis gesammelt. Für die Traditionalisten im Fußball – und davon gibt es auch in Deutschland mehr, als man gemeinhin annehmen möchte – kommen jetzt schwere Zeiten zu. Sie werden es nicht schaffen, das Rad der Zeit anzuhalten oder gar zurückzudrehen bis zu den alten Chinesen, die dieses Spiel erfanden und den Ball noch mit Tierhaaren füllten. Und sie werden es auch nicht durchsetzen, dass die Torlatten wieder von den Spielern auf den Platz getragen und die Seitenlinien mit Sägemehl gestreut werden. Traditionalisten, wir erinnern uns, das sind solche, die noch vor drei, vier Jahren das Hawk Eye, die Torlinien-Kamera, als Teufelszeug verdammten. Argument eins: zu teuer. Argument zwei: Ach, was soll der Quatsch? Heute, nach gerade einmal acht Monaten in der Bundesliga, schert sich keiner mehr darum, da gehört das gläserne Auge fast schon zum Alltag.
„Das ist ein guter Tag für den Fußball“, sagte auch Markus Merk, als er von der Entscheidung der Regelhüter erfuhr. Der frühere FIFA-Schiedsrichter, jetzt TV-Oberschiedsrichter bei Sky, könnte einer der Videoschiedsrichter sein, die künftig in einem technisch aufgepäppelten Kleintransporter hinter den Stadionwällen oder in einer Tribünenkabine die heiklen Szenen analysieren und rufen: „Schiedsrichter ans Telefon!“ Dann wird ein Pfiff entweder bestätigt oder eine hanebüchene Entscheidung rückgängig gemacht.
Kein Zweifel, es wird auch mit dem Videobeweis weiterhin umstrittene Szenen geben. Aber selbst wenn nur neun von zehn krassen Fehlentscheidungen korrigiert werden können, wäre das nicht eine wunderbare Erfolgsquote auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit? Denn der Fußball ist heutzutage dummerweise kein fröhlicher Kick im grünen Gras mehr, sondern ein Zirkus, in dem es um Existenzen und Emotionen geht. Ein falscher Pfiff kann den Abstieg bedeuten und die Welt eines Fans aus den Fugen sprengen.
Dieser Februar-Samstag, als der Daumen für den Videobeweis hochging (FIFA-Präsident Gianni Infantino: „Ein historischer Tag“), war ein guter Tag für alle – vor allem für die Schiedsrichter. Sie waren bisher die traurigen Clowns und Prügelknaben im Zirkus. Als Kanonenfutter wurden sie an die Front geschickt und mit der Eigenverantwortung für ihre Entscheidungen im Kugelhagel allein gelassen.
Und wie sieht man nun beim regionalen Aushängeschild, dem 1. FC Magdeburg, die ganze Entwicklung? „Prinzipiell bin ich für den Videobeweis“, sagte Cheftrainer Jens Härtel im Gespräch mit Magdeburg Kompakt. „dafür geht es einfach im Fußball heute um zu viel. Man muss nur aufpassen, dass durch die Unterbrechungen, die ein Nachbetrachten auf dem Bildschirm zwangsläufig mit sich bringen, nicht der Charakter des Spiels verloren geht. Ich muss es mir als Trainer eben genau überlegen, wann ich den Joker ziehe. Ansonsten glaube ich, dass diese neue Methode, hätte sie schon früher zur Verfügung gestanden, im Verlauf der Drittligasaison die eine oder andere schwerwiegende Fehlentscheidung gegen uns verhindert hätte. Ich erinnere nur an das Gegentor in Köln oder die Gelb-Rote Karte gegen Niklas Brandt.“ Und noch eines ist Härtel wichtig: „Ich denke, es wäre vor allem eine große Entlastung für die Schiedsrichter.“
Auf einer Wellenlänge mit seinem Trainer schwimmt FCM-Kapitän Marius Sowislo. „Ich stehe der Sache ausgesprochen offen gegenüber“, erklärte er. „Das Spiel ist derart schnell geworden, dass nur Bruchteile von Sekunden verbleiben, um eine Entscheidung zu treffen. Es ist also vor allem eine Hilfe für die Referees. Und wir dürfen nicht vergessen, heute haben wir es im Spitzenfußball mit Unternehmen zu tun, da kann jede Fehlentscheidung auf dem Rasen zu Entwicklungen führen, die sogar die berufliche Existenz von Vereinsangestellten, also auch von Spielern, gefährden können.“
Nicht ganz so optimistisch sieht es zunächst Ex-Bundesliga-Profi Maik Franz, heute Assistent der FCM-Geschäftsführung. „Ich bin da noch ein bisschen skeptisch. Ich sehe zumindest die Gefahr, dass sich der Fußball, wie wir ihn kennen und lieben, verändern könnte. Was ich meine: Hat beispielsweise ein Team gerade eine Druckphase, könnte der gegnerische Trainer durch einen nicht berechtigten Videobeweis dazwischenfahren, so den Rhythmus zerstören. Außerdem haben doch gerade umstrittene Schiedsrichterentscheidungen immer wieder für Gesprächsbedarf gesorgt, ich sage nur Wembley-Tor. Andererseits, es ist etwas total Neues, man sollte es vielleicht auch nicht zu negativ sehen, einfach erst einmal abwarten, wie die Tests verlaufen.“
Um allen Fehlinterpretationen vorzubeugen: Auf absehbare Zeit wird der Videobeweis, schon aus
Kostengründen, den höchsten Spielklassen vorbehalten bleiben. Dort, wo es neben der Ehre möglicherweise um ein bisschen Kleingeld geht. Aber angesichts der rasant voranschreitenden technischen Möglichkeiten sollte nichts mehr ausgeschlossen werden, später nicht einmal mehr für die unteren Klassen. Wer weiß, denn wer hätte einst gedacht, dass wir mit dem GPS heute ja schon den kleinsten Feldweg finden, mag er sich noch so abgelegen irgendwo in der Pampa dahinschlängeln.
Vielleicht kann selbst diese Geschichte mit tragischem Ausgang als Plädoyer für Kameras am Spielfeldrand herhalten: In Argentinien ist im Februar ein Schiedsrichter wegen einer Roten Karte erschossen worden. Könnte er noch reden, er hätte vermutlich für den Videobeweis gestimmt.