„Wolfsrudel wachsen stetig“! Diesen Weckruf las ich kürzlich als Headline in einem der kostenlosen Blätter des Jerichower Landkreises. Ach, dachte ich, nach Flüchtlingskrise und Vogelgrippe überkömmt uns nun die Wolfsplage. Damit haben wir bereits drei von den sieben möglichen Plagen (war da nicht auch etwas von Heuschrecken seinerzeit zu hören?) binnen kurzem erlebt: Der umweltpolitische Sprecher, Detlef Radke und der landwirtschaftspolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, Guido Heuer in Sachsen-Anhalt beispielsweise, warnten vor Überwolfung, die durch eine Zunahme von Fraß- und Laufschäden auf den Äckern sachsen-anhaltischer Landwirte unübersehbar sei. Wie jetzt, dachte ich, sind die Wölfe Vegetarier geworden und fressen statt der Großmutter den Mutterboden? Arbeiten also Seite an Seite mit den Mais- und Rapsagrariern an der Verwüstung des Bodens, auf dem letztere die beiden einzigen verbliebenen Ackerpflanzen, ähnlich den vietnamesischen Reisbauern im, allerdings mit niedersächsischer Gülle, bewässerten Maisfeld, also eher einem Scheißfeld, anbauen? Nein, die Sorge ist eine andere. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Wolfes ist schneller als gedacht. Ein Raser sozusagen, der gestoppt gehört. In Möckern wohne ich in der flächenmäßig viertgrößten Stadt der Bundesrepublik, die (wichtig für den Markenkern) mit mindestens einem freilaufenden Wolfsrudel auf dem nahe gelegenen Truppenübungsplatz Altengrabow, We(h)rwölfe nennt man die dann wahrscheinlich, gesegnet ist. Den Jägern zufolge ist die Gefahr so groß, dass die umliegenden Dörfer heute schon großmutterfrei sind. Ansonsten sind die Wölfe, vom Bundeswehrpanzer herunter gefüttert, geradezu handzahm und darum ein Problem(wolfsrudel). Worauf kein Jäger kommt: Sie sind so zahlreich, weil die Jäger ohne Rücksicht auf die Reproduktionsfähigkeit des Waldes, den Tisch für die Wölfe ausnehmend gut gedeckt haben. Sie haben soviel Rotwild in den Wäldern angezüchtet, dass es weder für Jäger noch Wald gesund ist: Für den Wald nicht, weil der Verbiss keinen Nachwuchs zulässt. Für die Jäger nicht, weil die sich gar nicht mehr bewegen müssen, um zum Schuss zu kommen. Erkennt man die Förster daran, dass sie lang und schlank sind, schreitet der Jäger in Hermann-Göring-Statur. Das war, als vor 5000 Jahren die mesopotamischen Landsleute die Landwirtschaft in unsere Jäger- und Sammlergesellschaft brachten, entschieden anders. Und brauchten wir eben noch der Flüchtlinge wegen, die in Herden oder Rudeln ins gebeutelte Land (meinte die CDU nicht eher das Land der Beutelträger?) einfielen, eine „Leitkultur“, so brauchen wir angesichts der Wolfsplage nun eine „Leitlinie Wolf“ mit konkreten Handlungsempfehlungen (am besten Erschießen). Klingt Ihnen das nicht auch irgendwie alles sehr völkisch? Ach ja, und die „Leitlinie Wolf“ gehört nach Heuer und Radke erweitert um den Umgang mit „Problemwölfen“ (QED). Ich finde, die gehören abgeschoben. Soll sich der französischstämmige Bundesinnenminister doch etwas einfallen lassen. Wobei ich, wenn ich an den denke, auch bedaure, dass es, als die Hugenotten kamen, keine Rückführungsgesetze gab. Man wird doch nicht überall in Frankreich seinerzeit die Protestanten hingemeuchelt haben, oder? Notfalls hätte man sie über den Kanal abgeschoben oder als Soldaten nach Amerika verkauft. Zumindest die Enkelgeneration. „Leitlinie Wolf“: Ich sehe den Führer auf dem Berghof vor mir, Blondi an der Seite. Vielleicht wäre es an der Zeit, eine „Leidlinie CDU“ zu ziehen, eine Art roter Linie, die Scharfmachern wie dem Württemberger Innenminister Thomas Strobl unmissverständlich die Grenzen der Unanständigkeit aufzeigt. Die Grenzen der Anständigkeit sind ja längst hinter dem Horizont verschwunden. Eine „christliche Partei“, die ungerührt hinnimmt, dass wir zu diesem Weihnachtsfest möglicherweise den 5000. ertrunkenen Flüchtling im Mittelmeer feiern können, und das sind nur die, die offiziell bekannt wurden, redet sich vor ihrem Herrn um Kopf und Kragen, wobei ich glaube, dass das Bild schief ist, weil die Bedingung für das Bild wäre, dass diese Herrschaften überhaupt einen Glauben hätten. Wenigstens einen atheistischen. Ich befürchte, auch da wäre Fehlanzeige. Wie kamen wir darauf? Ach ja, die Wölfe. Und der gedeckte Tisch. Die in England lebende Historikerin Andrea Wulf (Abitur in Berlin – was wird eigentlich nach dem Brexit aus solchen Karrieren?) hat das in diesem Jahr vielleicht wichtigste Buch geschrieben, eine Biografie über den „ersten Umweltschützer“ wohl überhaupt, Alexander von Humboldt. „Humboldt erkannte, dass alles zusammenhängt und in der Natur nichts separat betrachtet werden darf. Nicht einmal der winzigste Organismus existiert nur für sich.“ So Wulf in einem Interview im „Stern“ 49/2016, derselben Zeitung mit einem fast unfassbar blöden Castro-Artikel, in dem, wie in anderen auch, peinlich genau darauf geachtet wird, keinen Zusammenhang zwischen der US-Blockade der Insel und der Hinwendung Castros zur Sowjetunion herzustellen. Gut, aber das ist schon wieder ein anderes Thema. Die Vogelgrippe haben wir auch noch nicht hinreichend gewürdigt. Alle drei Themen, so schlimm das ist, zeigen die Ratlosigkeit einer Regierungspartei, die vielleicht eine Partei ist, der aber die zum Regieren notwendige Fortune abhanden gekommen ist. Die Kanzlerin hatte sie gehabt, im vorigen Jahr. Das hätte ein großes Beispiel der Humanität geben können, hätten die Menschen mitgezogen – und, vor allem, ihre eigene Partei. Da aber bekamen die AfD-Nachplapperer das Wort, der unselige bayrische Nebenkanzler voran, aber die Kleingläubigen aller Bundesländer hinterher, Strobl, Koch, der sich in Gegenposition zur Kanzlerin bringende Jens Spahn, der nicht wie sein Chef Schäuble im Minis-terium hocken bleiben will. Aber sie eint alle: Statt überzeugender, leuchtender Ideen für das nächste Jahrzehnt halten sie die Kerzenstummel des verlöschenden 20. Jahrhunderts in ihren Köpfen gefangen. Sie sind die Wölfe, die nur noch aus Angst um ihren gedeckten Tisch bestehen.