Langsamer Leser: Luther-Jubel-Lähmung

schumannDas Ärgernis befindet sich seit Beginn des 14. Jahrhunderts in luftiger Höhe am unpassendsten Ort anlässlich des nahenden Luther-Jubiläums, nämlich der Wittenberger Stadtkirche, der Predigtkirche Luthers, wenn man den vom englischen Theologen Richard Harvey angeführten Protestlern glauben will, die eine Entfernung dieses Ärgernisses bis zum Reformationsjubiläum fordern. Deren eingehender Beobachtung zum Thema entging natürlich nicht der Beitrag und die Wertung, die Dr. Steffen Rhein, der „Chef“ der Lutherstätten Sachsen-Anhalts in seinem Interview in dieser Zeitung geäußert hatte. Es gab Zuschriften aus England, der Schweiz und Österreich. Ein Ärgernis sei es, ohne Zweifel. Unlängst drohte gar jemand den Wittenbergern mit einer Millionenklage. Geschichte, wenn unliebsam, gehört ins Museum entsorgt, nach Vorstellung der Protestler.

Wäre es nicht geratener, angesichts der Tatsache, dass dieses in der Tat unsägliche Bildnis, das aber, ob es uns passt oder nicht, Teil der Kirchen- wie der Kulturgeschichte Deutschlands ist, auch angesichts der Tatsache, dass dank einer Marginalisierung des Geschichtsunterrichtes in unseren Schulen zugunsten eines immer weiter ausgebauten naturwissenschaftlichen Unterrichtes, der in seiner steigenden Bedeutung die kulturhistorischen und Allgemeinwissen wie Ethik bildenden Fächer zusehends pulverisiert, ein zukunftgerichtetes Projekt zu entwerfen, als rückwärtsgreifend die Geschichte umschreiben zu wollen? Die Diskussion, scheint mir, spielt denen in die Hände, die aus diesen 500 Jahren Reformation eine Art Luther-Jubel-Lähmung machen wollen, weil eine zukunftsorientierte Jubelfeier abrupt der Heuchelei einer in sich und mit sich zufriedenen Gesellschaft ein Ende bereiten würde. Da weiland die Reformation kein Nebenkriegsschauplatz ihrer Zeit war, ginge es auch heute, nach wie vor, ans Eingemachte. Denn eine Fortsetzung – und in ihrem Wesen ist Reformation ein Prozess und kein abgeschlossener Vorgang – würde bedeuten, es muss zu jeder Zeit alles gesellschaftlich Relevante, natürlich auch alles kirchlich Relevante – auf den Seziertisch und die Ergebnisse dieses Prozesses gehören dann in aller Öffentlichkeit diskutiert. Was wiederum den mündigen Bürger voraussetzt, der selbstbewusst und um das Wohl der Öffentlichkeit nicht nur besorgt, sondern für sie auch engagiert, die Diskussion vorantreibt, ohne dabei seine „Kinderstube“ zu vergessen und politischen Persönlichkeiten Begriffe aus dem Porno-Handbuch an den Kopf zu werfen.

Gut, aber was machen wir jetzt mit dem „Stein des Anstoßes“? Die Wittenberger sind sicher gut beraten, wenn sie ihn als solchen da lassen, wo er ist, weil er das ist: Ein Stein des Anstoßes. Auch wer sich daran stößt, dass der Reformator einem „erschrec-kenden Antijudaismus“ (Schorlemmer) frönte, wird, beschäftigt er sich mit der Zeit, bald merken, dass dieser Antijudaismus dem Zeitgeist entlehnt ist: Man findet ähnliches Gedankengut bei allen namhaften Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts, von Erasmus bis Reuchlin.

Friedrich Schorlemmer erzählte, dass man in den achtziger Jahren im Verlaufe von Restaurationsarbeiten überhaupt erst das Thema des von unten nur ganz allgemein sichtbaren Reliefs entdeckt hatte. Schorlemmer: „Es war klar, dass es da oben ein Relief gab, aber es war niemandem klar, was das eigentlich darstellt. Mit diesem Thema muss man sich natürlich auseinandersetzen. Man kann Luther auch überhaupt nicht entschuldigen. Er hat den Sündenbock-Mechanismus seiner Zeit, die Juden für alles verantwortlich zu machen: Für das Kindersterben, für die Pest, für Hungersnöte, einfach fortgeschrieben. Das muss auch anlässlich des Reformationsjubiläums mitbedacht werden. Aber es muss zugleich auch mitbedacht werden, dass man sich klarmacht: Der Nationalsozialismus, der sich die Judenvertreibung und -vernichtung in Deutschland auf die Fahnen geschrieben hatte, fand leider auch Mehrheiten! Bis dahin, dass in der Schulderklärung der Evangelischen Kirche Deutschlands von 1945 die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung mit keinem Wort Erwähnung findet. Wusste man bei der EKD im Oktober 1945 noch nichts von diesen Gräueln? War nicht Martin Niemöller einer, der das KZ erlebt und überlebt hatte? Freilich: Die Mehrheit der Evangelischen Christen in Deutschland wählte bei den Kirchenwahlen 1933 Mitglieder der Nationalsozialistischen Deutschen Christen. Das heißt, wenn man anfängt, eine Person aus der Geschichte herauszupicken, wie jetzt Martin Luther, dann muss man auch sagen: Schaut, das ist unsere erschreckende, gemeinsame Geschichte.“

Es ist der falsche Kampf, der von den Protestlern geführt wird. Die Vergangenheit lässt sich nicht wegbauen. Im Gegenteil, wir bedürfen der Erinnerungszeichen, dass wir die Geschichte im Gedächtnis bewahren, sie erzählen, auf Nicht-Wiederholung drängen. Mit dem Bildersturm in Magdeburg, zu dem ich das Wegräumen des von Jochen Sendler geschaffenen Erich-Weinert-Denkmals vom Breiten Weg auf den Hinterhof seines Geburtshauses zähle, aber auch den Wiederaufbau der Johanniskirche, weil man nicht ertragen konnte, dass die Ruine im Stadtzentrum ein bewegendes Zeugnis des letzten Krieges war, hat man, wenn auch Erinnerungszeichen anderer Art, gleichfalls versucht, durch menschliche Schuld geschaffene Tatsachen zu retouchieren. „Das bösartige Schmähbild“ (Schorlemmer) zu Wittenberg hat 1988 als Gegenstück die Bodenreliefplatte von Wieland Schmiedel erhalten, zusagen als eine, wenn auch späte, Antwort der Kirchengemeinde. Dem Stein des Anstoßes wurde ein Anstoß aus Stein hinzugefügt, in dem Wissen Schorlemmers: „Aber Geschichte lässt sich nicht einfach entsorgen. Sie gemahnt uns an Dunkles, auch bei dem großen Reformator Martin Luther und seinen Zeitgenossen.“ Da wird auch deutlich: Es heißt aus der Tradition leben, nicht in der Tradition leben, wenn man im Luther-Jahr einer Luther-Jubel-Lähmung entgehen will. Das leuchtet sogar mir als langsamen Leser ein. Ludwig Schumann