Offen und ehrlich

ehrlichVon Gerald Wolf

Jemandem etwas „offen und ehrlich“ zu gestehen, mag eine Floskel sein, vielleicht aber auch ein Zeichen, dass man es ansonsten mit der Wahrheit nicht ganz so ernst nimmt. Jetzt aber mal ganz unter uns und wirklich offen und ehrlich: Sagen Sie immer die Wahrheit?

Wenn ja, dann sind Sie die große Ausnahme. Im Schnitt lügt der Mensch pro Tag etwa 200 Mal. Das jedenfalls behaupten Psychologen, die die Wahrheit über das Lügen erforschen. Bereits eine Schwindelei sei es, wenn wir jemandem „Guten Tag“ sagen, dem wir eher die Krätze an den Hals wünschen. Oder wenn wir einen Beschwerdebrief „Mit freundlichen Grüßen“ unterschreiben. Schon das Verschweigen der Wahrheit ist ein Problem. Es macht einen Riesenunterschied, ob man Ostereier versteckt und dann so tut, als wisse man nicht wo, oder ob man den Mörder kennt, und ihn nicht nennt. Oder ob der Staat die Nationalität von Kriminellen kennt und sie verschweigt. Der Focus zitierte kürzlich Ex-Bundesinnenminister Friedrich, der von einem „Schweige-Kartell“ aus Politik, Polizei und Medien sprach. Darf es so etwas geben? Hier bei uns, in einer Demokratie, in der es doch offen und ehrlich zugehen sollte?
Riesig ist der Formenkreis der sozialen Lügen. Sie schmieren das Räderwerk der Gesellschaft. Gelogen und getäuscht, gebläht und verniedlicht wird der Höflichkeit und dem Takt zuliebe, aus Scham, aus Angst, aus Unsicherheit, aus Geltungsbedürfnis. Oft auch aus einer Not heraus, um der Kritik oder einer Strafe zu entgehen. Andererseits wäre das Leben noch fader, wollten wir einer sturen Korrektheit halber auf Über- oder Untertreibungen verzichten. Wie amüsant doch ist es, auf eine reizvolle Art flunkernd an der Wirklichkeit vorbeizuschlenkern. Auch die Scherzlüge gehört hierher, der Aprilscherz zum Beispiel. Ebenso, dass die Schauspieler nur so tun als ob. Wer schon will da ernsthaft glauben, dieser Prinz Hamlet da vorne auf der Bühne sei real, sei auch in Wirklichkeit der Sohn des brüderlich ermordeten Königs von Dänemark. Je überzeugender der Schauspieler seine Rolle vorgegaukelt, umso fähiger ist er. Auch an eine ganz andere Art von Realitätsferne ist zu denken: An die bösen Wahrheiten, die auszusprechen wir uns besser dreimal überlegen sollten. Einem Sterbenskranken oder sonst wie vom Schicksal Gebrochenen werden wir doch wohl liebend gern etwas Tröstendes sagen wollen, auch wenn wir damit ein Stück weit von der Wahrheit, von der reinen, nackten Wahrheit, abrücken müssen.
Zu einer ganz anderen Art von Unwahrheit gehören die Zwecklügen, derer man sich bedient, um für sich oder andere einen Vorteil zu ergattern. Besonders übel ist die Schwester der Zwecklüge, die Intrige. Ihr Ziel ist der Nachteil eines Anderen. Der Intrigant schafft das mit einem bald mehr, bald weniger fein gesponnenen Netz aus Lügen, Finten und falschen Andeutungen, durch Diffamierung oder durch sonst wie geartete Täuschung. Zur Gattung der Zwecklügen gehören auch Formen der Werbung, wie sie in der Wirtschaft gang und gäbe sind. Da werden dem Gutgläubigen Aktien und Fonds oder Immobilien angedreht, von denen der Verkäufer weiß, dass sie über die Jahre hin nur Verluste einfahren. Pillen und Behandlungsarten werden mit Heilsversprechen verkauft, die blanke Lügen sind. Selbst in der Wissenschaft wird hier und da gelogen, wiewohl diese ihrer Zwecksetzung gemäß zur Wahrheitssuche antritt. Geschummelt wird der Karriere oder der Reputation wegen, oder um Forschungsgelder zu erschleichen.
Wann und wo, so muss man sich nun fragen, haben wir es denn überhaupt noch mit der Wahrheit zu tun, mit Verlässlichkeit? Am Stammtisch etwa oder am Küchentisch, in der Zeitung, im Fernsehen oder im Rundfunk? In der Schule, der Hochschule, bei Demonstrationen auf der Straße, in der Kirche, vor Gericht, wenn nicht bei VW dann bei Mercedes? Oder in der Politik? Ausgerechnet dort? Früheren Umfragen zufolge sollten immerhin noch 15 Prozent der Bürger glauben, dass die Taktiker der Staatskunst immer die Wahrheit sagen und nichts als die Wahrheit, nichts vertuschen, nichts verschleiern, nichts verdrehen. Heutzutage gibt es womöglich überhaupt niemanden mehr. Die Ereignisse der Silvesternacht in Köln, Berlin, Hamburg oder sonst wo und die skandalösen Umstände ihrer Vertuschung werden die letzten der Gutgläubigen hinweggerissen haben. Dumm gelaufen für die Politik. Für den Ossi nicht weiter aufregend, kennt er. Doch Häme hin, Häme her, was schon kann ein Politiker machen, wenn er einer anderen Meinung ist als die, die ihm seine Partei vorgibt? Geradebleiben oder sich krümmen? Wohl besser krümmen, denn sonst ist es mit seiner Karriere aus. Professor Dr. Klaus Kocks, bekannt durch zahlreiche Veröffentlichungen und Auftritte in Talk-Shows, berät Wirtschaftsunternehmen und Politiker in PR-Angelegenheiten. In der Interviewsammlung „Medienmenschen“ ( Hrsg. J. Bergmann und B. Pörksen; Solibro 2007) sagte er, gleich ob Marktprodukt oder Politiker, für die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit sei nicht Wahrheit die Kategorie, die über Sein und Nicht-Sein entscheide, sondern „fiktionale Glaubwürdigkeit“. Wenn es also fiktional glaubwürdig ist, das Blaue vom Himmel herunterzuschwindeln, dann mag das erfolgreicher sein, als offen und ehrlich zu bekennen, durch ein solches Ansinnen überfordert zu sein. Oder denken wir an die Antifaltencremes. Am Alterungsprozess der Haut ändern sie nichts, gar nichts. Das darin enthaltene Fett hat einen rein physikalisch zu erklärenden, glättenden Effekt, das in der Creme enthaltene Wasser lässt die Haut etwas quellen und – feine Runzeln verschwinden. Natürlich nur vorübergehend. Butter oder Rapsöl und ein feuchter Waschlappen tun‘s auch. In Sachen fiktionaler Glaubwürdigkeit hingegen sind die Anbieter wirkliche Klasse. Da wird naturwissenschaftlich und medizinisch begründet, was das Zeug hält. Nichts davon lässt sich belegen, nichts ist Wahrheit. Das einzige, was am Ende stimmt, ist die Kasse.
Zurück zu den Politikern: Sie alle sind rhetorisch geschult und wissen, ihre Worte erfolgsträchtig einzusetzen. Anders kann man sich in diesem Metier nicht halten und erst recht nicht an die Spitze gelangen. Auch geht es nicht ohne Klugheit, ohne Fleiß und ohne Ausdauer. Gut zu reden und überzeugend zu begründen, führt allein schon bei manchem zu dem Verdacht, über’s Ohr gehau’n zu werden. Natürlich ist das unsachlich. Auch mag man einräumen, dass es in der großen wie in der kleinen Politik so manches gibt, das nicht in die Öffentlichkeit gehört. Zumindest nicht sofort. Das allerdings reicht schon für Willkürlichkeiten aus, zum Beispiel um Geschehnisse, über die wir alle Bescheid wissen sollten, unter den Teppich zu verfrachten. Die Gründe mögen egoistischer Art sein oder parteipolitisch motiviert. Wer wollte, wer sollte, wer könnte das zuverlässig kontrollieren? Allerdings genügt schon eine kleine Flunkerei, wenn sie bekannt wird, um das Vertrauen der Bürger nachhaltig zu zerstören. Das geht auch anders, nämlich indem man um den heißen Brei herumredet oder rhetorische Pirouetten dreht, um der Öffentlichkeit Wahrheitsersatz oder Teilwahrheiten zu präsentieren. Ähnlich ist der Effekt, wenn Politiker mit einem gestörten Verhältnis zur Wirklichkeit unbequeme Wahrheiten vertuschen oder verharmlosen oder diese hinter leerem Gewäsch verbarrikadieren. Erstaunlich gut hingegen kommen noch immer gewisse Schlagworte an, ebenso Verleumdungen Andersdenkender und Gesinnungsphrasen, vorausgesetzt sie sind eingängig und von großer fiktionaler Glaubwürdigkeit (siehe oben: „Antifaltencremes“).
Am 13. März haben wir mal wieder die Möglichkeit der Wahl und die zur Abwahl. Jeder von uns verfügt über zwei winzige Stimmchen. Die Masse macht’s, und die ist dabei aufzumucken. Sie fühlt sich verschaukelt, weil die Situation, in die wir bei faktisch aufgegebener Grenzkontrolle durch unbeschränkte Zuwanderung geraten sind, immer noch als „Krise“ bezeichnet wird, obwohl sie längst den Rang einer nationalen Katastrophe erreicht hat. Einige Zeit zuvor hieß es noch beschönigend „Chance“. Von der Politik wurde über all die Monate hin geltendes Rechts kollektiv ignoriert. Jetzt, kurz vor den Landtagswahlen, kommen sie alle auf einmal, die Politiker, auch die Medienleute, und melden Veränderungsbedarf an. Selbst den noch wollen sie, hastig geworden, ständig verändern. Sie könnten einem leidtun, die verunsicherten Politiker, die kürzlich noch ganz sicher waren. Auch das Kartell zwischen den etablierten Parteien und den staatstragenden Medien funktioniert nicht mehr so, wie es kürzlich noch funktioniert hat. Spannend, was dieses Mal die Addition all der vielen kleinen Stimmchen ergibt.